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Theater: Zu welchem Ende?

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THEATERGESCHICHTE EUROPAS. Von Heinz Kindermann. Band IV. Von der Aufklärung zur Romantik. 1. Teil. Otto-Müller-Verlag, Salzburg. 846 Seiten. 1 Tafel, 58 Kunstdruckbilder, 286 Textillustrationen. Preis 335 S.

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THEATERGESCHICHTE EUROPAS. Von Heinz Kindermann. Band IV. Von der Aufklärung zur Romantik. 1. Teil. Otto-Müller-Verlag, Salzburg. 846 Seiten. 1 Tafel, 58 Kunstdruckbilder, 286 Textillustrationen. Preis 335 S.

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Seit Schiller zu Beginn seiner historischen Vorlesungen zu Jena in Offenheit und Öffentlichkeit die Frage aufwarf, was das denn eigentlich sei, „Welt- und Universalgeschichte“, und „zu welchem Ende“ man sie studiere, müssen sich die untergeordneten Disziplinen der Historie diese Befragung erst recht gefallen lassen. Die Theatergeschichte ist einer der jüngsten Zweige der historischen Wissenschaften. An ihrer Wiege standen Männer von so systemsprengender Eigenart, wie der unvergeßliche Hermann Kutscher, daß sich die theatergeschichtliche Disziplin in den Anfängen aus den Strukturen dieser zuweilen recht eigenwilligen Forscherpersönlichkeiten heraus bestimmte.

Auch Heinz Kindermann ist eine Persönlichkeit. Auch er faßt die Theatergeschichte nicht als archivarische Materialien- oder Kuriositätensammlung auf, noch weniger als eine Hilfswissenschaft der allgemeinen Kulturgeschichte. Aber ihm ist es gelungen, die Theaterwissenschaft bei aller Wahrung der musischen Eigengesetzlichkeit dieser Disziplin in die allgemeine Geistesgeschichte einzuordnen, die Verbindungs- und Einflußlinien sichtbar zu machen, die zu den anderen Disziplinen hin führen. Man kann dies freilich auf zweierlei entgegengesetzte Weise einseitig durchführen. Da ist einmal der Weg der Marxisten und Soziologisten, die allein von der gesellschaftlichen Gegebenheit ausgehen und das Theater als eine Funktion des „Überbaus“ behandeln.

Und da ist auf der anderen Seite der Weg der reinen Ästhetiker, die vom Formproblem ausgehen, von den metaphysischen Allgemeinstrukturell einer bestimmten geistesgeschichtlichen Epoche und von daher das Einzelphänomen einordnen und bewerten. Kindermanns Leistung, die sich bereits in den vorliegenden drei ersten Bänden seiner europäischen Theatergeschichte erwies, liegt darin, hier einen wirklichen Mittelweg der Methode gefunden zu haben. Der vierte Band seiner Theatergeschichte Europas („Von der Aufklärung zur Romantik“, 1. Teil) stellt für seine Arbeitsweise die bestandene Feuerprobe dar. In dieser Epoche, die für ihn mit dem „großen Jahrhundert“ Frankreich einsetzt, das er durchaus folgerichtig nicht dem Barock zuzählt, differenziert sich - die allgemeine Geistesgeschichte. , Frobleme und Themenstellungen werden erkennbar, die bis zur Gegenwart hin gültig geworden sind. Von Stücken ist jetzt die Rede, die zu einem nicht geringen Teil, auch heute noch, zum lebendigen Repertoire gehören, vor denen man also nicht in die unverbindliche Neutralität historisierender Betrachtungsweise ausweichen kann.

Die Linie führt vom Theater der Epoche Ludwigs XIV. zunächst zur Antithese des englischen Theaters, um dann in der Zeit des Rokoko wieder nach Frankreich zurückzuweisen. Nach einem historisch sehr interessanten, weil größtenteils in den religionspolitischen Verzweigungen unbekannten Interludium über den „Schweizer Theaterkrieg“ (Voltaire-Rousseau) geht Kindermann dann zum Theater des deutschen Sprachraums über und verfolgt dessen Entwicklung (unter vorläufiger Aussparung des österreichischen Lebenskreises) bis an die Schwelle der Klassik. Das Mannheimer Theater Dalbergs, das ja mit dem jungen Schiller in engstem Zusammenhang steht, wird in dieser Periodisie-rung mit Recht noch als ein Theater des Obergangs angesehen. Aber die sehr ausführlich und ohne Verschweigen der recht problematischen Züge gewürdigte Gestalt Ifflands. als des ersten bürgerlichen Theatermanns, bildet bereits die Brücke mm folgenden.

Die Glanzpunkte dieser Epochendar-•tellung liefen in jenen Kapiteln, die sich mit der Aufhellung der gleichermaßen gesellschaftlichen wie geistesgeschichtlichen Hintergründe befassen. Das ist besonders bei der Darstellung des französischen Ordenstheaters und bei der von dorther rührenden Antithese der Dramatik Cor-neilles und Racines det Fall. Ganz ausgezeichnet ist auch die Darstellung des Werdens der englischen Oper, besonders die Einordnung des Händeischen Schaffens gelungen. Hier sind die Zusammenhänge mit der gleichzeitigen historischen Entwicklungslinie des englischen Reiches frappierend klar herausgearbeitet. Dennoch Ist die Eigenständigkeit des Händeischen Genius in jeder Phase respektiert und nicht in die soziologische Betrachtungsweise, die ja angesichts der Entstehung der ..Bettler-Oper“ mehr als genug strapaziert wurde, eingeebnet. Das Kapitel über die Neuberin und das ihm folgende über die hamburgische Dramaturgie bringt zwar für den halbwegs Gebildeten Bekanntes, fügt dem aber eine solche Fülle materialgeschichtlicher Details hinzu, daß man selbst hier immer wieder neue Perspektiven entdeckt. (Die große Rolle des Hofes von Schwerin hat man landläufig zuweilen unterschätzt.) Je näher Kindermanns Werk, jetzt in den letzten Bänden der Gegenwart rückt, um so mehr wird es seiner zweiten Aufgabe neben der Stoffdarbietung gerecht werden: das Zurechtfinden, die Orientierung, das Erarbeiten eines eigenen Standpunkts in der Fülle des Überlieferten und noch heute den Spielplan Beherrschenden zu ermöglichen.

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