6617951-1955_44_03.jpg
Digital In Arbeit

Der Arzt meint:

Werbung
Werbung
Werbung

Es gibt heute keine Zweifel darüber, daß die Sonntagsruhe als periodisch regelmäßige Unterbrechung der werktäglichen Berufsarbeit für den Gesundheitszustand wichtig, ja notwendig ist. Alle Lebensvorgänge vollziehen sich in periodischen Phasen, von denen eine in der Regel der positiven Arbeitsleistung, die andere der Erholung, also der Ansammlung neuer Kraftreserven und der Abgabe von Abfallsprodukten des Stoffwechsels dient. Was sich in der Natur im großen beim Wechsel von Tag und Nacht, von Ebbe und Flut, beim Zyklus der Jahreszeiten abspielt, läßt sich auch im organischen Leben, in der einzelnen Zelle wie im Gesamtorganismus nachweisen. Die Länge des Intervalls ist je nach Art- und Funktion des Organsystems verschieden. Sie ist aber auch bei ein und demselben Organ nicht immer gleich. Es konnte festgestellt werden, daß die einfachen physiologischen Arbeitspausen nicht ausreichen, um alle Arbeitsrückstände zu entfernen und den Kraftverbrauch zur Gänze zu restituieren. Es ist deshalb von Zeit zu Zeit — auch hier spielt die Regelmäßigkeit, also Periodizität, eine Rolle — notwendig, größere Pausen einzulegen, um die Funktionstüchtigkeit des Organismus zu erhalten. .Diese physiologischen Grundtatsachen liegen unserer gegenwärtig bestehenden Arbeitsordnung mit ihrem Schema von sechs Werktagen, einem Ruhetag und einem mehrwöchigen Jahresurlaub zugrunde. Die Arbeitsphysiologie hat übrigens ihre Untersuchungen auf diesem Gebiet noch lange nicht abgeschlossen: Das Problem der Normierung der Arbeitszeit steht permanent auf der Tagesordnung der Sozialgesetzgebung. Aber eines steht fest:

Der Mensch braucht periodisch wiederkehrende Ruhepausen, und das Ruhegebot des christlichen Sonntags entspricht vollauf diesem von der Natur gesetzten Bedürfnis.

Wir können noch mehr sagen. In den-letzten Jahrzehnten hat die Medizin die Erkenntnis gewonnen, daß die Kontrolle über die Organfunktionen allein nicht alle mit dem Problemkomplex Gesundheit—Krankheit zusammenhängenden Fragen klären könne. Was man früher einmal belächelt und als Ueberbleibsel primitiv-kultischer Vorstellungen hingestellt hatte, wurde plötzlich interessant und Gegenstand eingehenden Studiums: die menschliche Seele. Gewiß, es gibt einen Unterschied zwischen dem, was die Psychologen unter Seele verstehen, und der Definition der Seele durch die Theologie. Aber der Mensch war auf einmal keine Maschine mehr, sondern ein Wesen, lebendig aus dem Geiste heraus. Und nachdem es vorher nur eine rein körperlich orientierte Therapie und Hygiene gegeben hatte, so gab es nunmehr auch eine Psychotherapie und eine Psychohygiene. Im Grunde genommen heißt praktische Psychohygiene nichts anderes als Leben nach den natürlichen geistigen Bedürfnissen und Anlagen, da — und das ist wiedet das Beschäftigungsfeld der Psychopathologie — die Miß-

achtung und Unterdrückung der wesentlichen personalen Potenzen zu pathogenen Entwicklungen in geistiger Beziehung und, wie neueste Forschungen zeigen konnten, auch zu ernsten Störungen körperlicher Art Anlaß geben können. Die sogenannte psychosomatische Medizin beschäftigt sich mit den Zusammenhängen zwischen organischen Leiden und der geistigseelischen Haltung des Menschen.

Damit sind wir an einem Punkt angelangt, von dem wir die Brücke zum anderen Ufer schlagen können. Psychohygiene verlangt die Förderung der positiven geistig-seelischen Kräfte des Menschen. Was aber ist der Sinn und Inhalt des Gebots der Sonntagsheiligung? Verlangt es wirklich nichts anderes von uns, als daß man sich sonntags gründlich ausschläft und anschließend eine Stunde lang Präsenzdienst in einer Kirche leistet? Die Sonntagsheiligung fordert von uns zunächst die Sonntagsruhe, durch welche der Körper zu seinem Recht kommen soll. Sie verlangt aber darüber hinaus von uns die Besinnung auf den eigentlichen Zweck unseres Daseins und auf die Aufgaben, die jedem von uns persönlich im Hinblick auf die Erlangung dieses Zieles gestellt sind. Das sonntägliche Meßopfer als Wiederholung des Erlösungswerkes von Golgatha ist der hehrste und höchste Anruf des Menschen zur Bereitschaft, das Gute in sich zu vollenden. Einkehr in sich selbst, Rückkehr in sich selbst, Erkenntnis der eigenen Schwächen und Mängel, Reinigung, Gewinnung seelischer Kraft und Aufstieg, das ist es, was das Gebot der Sonntagsheiligung von uns will. Ich frage: Könnte es eine bessere Psychohygiene geben als das? Und muß nicht jede Psychohygiene, die sich in allgemeinen Feststellungen, Hinweisen und Anleitungen erschöpft, ohne auf den Kern-, Mittel- und Ausgangspunkt jeden geistigen Lebens vorzustoßen, fruchtloses Gerede bleiben? Als Wissenschaft vermag die Psychohygiene dem Menschen zweifellos wertvolle Aufschlüsse und Anweisungen zu geben. Die letzte Klarheit über seinen Weg und die Kraft zur Vollendung gibt dem Menschen doch nur der

Glaube. Dieser Glaube aber ist ebenfalls nicht zuletzt eine Frucht der Sonntagsheiligung.

Wir sehen also, daß sich auch auf dem Gebiet der Sonntagsgestaltung Wissenschaft und Religion nicht nur nicht überschneiden, sondern in glücklichster und sinnvollster Weise ergänzen. Im Sinne dieser Ergänzung heißt Sonntagsheiligung keineswegs Verzicht und Verurteilung von Sport, Vergnügung und Ausflug, doch bedingt sie eo ipso die Abkehr von der heute in weiten Kreisen der Bevölkerung üblichen Säkularisierung und Entgeistigung des Sonntags mit der sinnlosen Vergeudung von Geld- und Muskelkraft und den Vergnügungsexzessen, die so häufig die Ursache des Verlustes vieler Menschenleben und tragischer Konflikte aller Art sind. Die Heiligung des Sonntags ist in eminenter Weise geeignet, die körperliche und geistige Gesundheit des Menschen zu fördern und wird dadurch zu einer wichtigen Quelle der Wohlfahrt und des Wohlstandes der ganzen Nation.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung