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Gibt es eine osterreichische Nation?

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Was ist der Österreicher? Daß diese Frage aufgeworfen wird, daß die verschiedenartigsten Antworten darauf gegeben werden, das zeigt schon, daß hier ein Problem vorliegt. Man stelle sich einmal eine englische Broschüre vor, des Titels: Was ist ein Engländer? Oder eine französische: Was ist ein Franzose? Die Möglichkeit der Frage deutet hier schon auf einen ganz besonderen, von anderen Nationen verschiedenen Sachverhalt.

Wir reden hier nicht von den Leuten, die sagen: Es gibt keinen Österreicher. Wir sprechen hier nur von Menschen und zu Menschen, die an Österreich glauben, die auf die Frage: Was ist der Österreicher? eine positive Antwort haben. Zwei solche Antworten — von politisch ganz verschieden orientierten Seiten — verdienen herausgegriffen zu werden: die Broschüre des Staatssekretärs a. D. Ernst Fischer: „Die Entstehung des österreichischen Volkscharakters“ (1945) und die von Dr. Alfred Missong: „Die österreichische Nation“ (1946). Beide — das muß hervorgehoben werden — zeichnen ein feinsinniges, gut beobachtetes und treffendes Bild de* oster-reichischen Charakters, wie er sich in der Gegenwart und in den großen historischen Gestalten, die das österreichertum vorbildlich darstellen, klar und deutlich ausdrückt. Beide schließen aus der Tatsache, daß es einen solchen eigenen österreichischen Charakter, eine österreichische Denkweise, einen österreichischen Kunst- und Lebensstil gibt, auf die Existenz einer eigenen österreichischen Nation. Fischer spricht zwar, zurückhaltender, davon, daß Österreich „sich selber zu entdecken beginne“, daß hier „ein Volk zur Nation werde“ (Seite 3) und von der „Erziehung zur österreichischen Nation“ (S. 43) und er spricht im Kapitel: „österreichertum und Deutschtum“ (S. 27 bis 32) ganz offen von dem mangelnden Bewußtsein österreichischer Eigenständigkeit nach dem Zerfall der alten Monarchie, besonders in der österreichischen Arbeiterbewegung (S. 31) — aber er ist letzten Endes mit Missong doch einig in der bejahenden Antwort: Es gibt eine österreichische Nation, nur daß Missong diese Antwort noch entschiedener formuliert: „Alle Merkmale, die für eine Nation wesentlich sind, erscheinen für die österreichische Nation gegeben: eigene national Kultur, rassisch-anthropologische Sonderentwicklung und jahrhundertealte Eigenstaatlichkeit“ (S. 11). _ Fragt man aber nach den Gründen, die sie für das Zustandekommen dieser eigenen Nation angeben, so erhält man (außer dem Hinweis auf das staatliche frühere und jetzt nicht mehr unmittelbar wirkende Zusammenleben mit den anderen Nationen des Donaubeckens im Rahmen der alten Monarchie) eine Antwort, die befremden muß: es ist die — Rassenmischung. Daß das österreichische Volk „seiner Zusammensetzung nach eine Mischung auj illyrischen und keltischen, römischen, slawischen, magyarischen und germanischen Elementen war, und lediglich äußere Zweckmäßigkeiti-gründe es gewesen sind, welche die Wahl (als Verständigungsmittel) auf das Bayrische fallen ließen“ (Missong, S. 5), daß, wie Fischer sagt (S. 15): „Das Gewicht der nichtdeutschen Elemente... ausschlaggebend war bei der Herausbildung des österreichischen Volkscharakters“ und Wien, das geistige Zentrum Österreichs, ein „Rassenbabel“ genannt werden kann —, d a s soll die eigentliche Grundlage für die Entwicklung der österreichischen Eigenart gewesen sein, die dann, durch die politische Sonderentwicklung und das kulturelle Zusammenleben mit den übrigen Völkern des Donauraums verstärkt, immer mehr die Ausbildung einer eigenen österreichischen Nation herbeiführte. Letzten Endes ist es also — wenn auch nicht mit der „reinen nordisrhen Rasse“, sondern der vom Nazismus verachteten „Rassenmischung“ operiert wird — eine rassistische, „b 1 u t-* gebundene“ Begründung, an die das Bestehen einer eigenen „österreichischen Nation“ geknüpft ist. Die nazistische Ideologie, der nazistische Begriff der Nation ist hier einfach den österreichischen Bedürfnissen adaptiert und mit einem anderen Vorzeichen versehen worden. Sollte sich die Eigenständigkeit des österreichertums wirklich nicht anders begreiflich machen lassen, als auf rassischer Basis? Wenn es wirklich so wäre, dann wäre es übel um sie bestellt.

Christopher Dawson hat in seinem Buche „The Making of Europa“ als den Fjauptfehler der heutigen Geschichtsbetrachtung die Tendenz bezeichnet, alles vom nationalen Gesichtspunkt aus zu verstehen und das Nationale als die letzte Instanz des historischen, des sozialen, des geistigen Lebens aufzufassen, als den eigentlichen Träger der kulturellen Werte und der kulturellen Einheit. Wir vergessen darüber} sägt er, daß für vergangene Jährhunderte cfle Einheit sittlicher und menschlicher Haltung, wie sie das gemeinsame antike Kulturerbe vermittelt hat, die Einheit des gemeinsamen christlichen Bewußtseins, das über die nationalen Grenzen hinweg die „Christenheit“ zu einer geistigen Gemeinschaft höchster Ordnung zusammenschloß, die Einheit des Rechts, das über das Nationale hinweg für alle gleich bindend ist, zumindest ebensosehr Realität bedeutet haben wie die Eigenständigkeit des Völkischen, Nationalen, Blutgebundenen. Au? der Überbetonung des Nationalen, wie sie sich schon im 19. Jahrhundert langsam herausgebildet hat, ist der Nazismus entstanden. Und nun, nach dem Fall des Nazismus, denken wir in seinen Kategorien weiter. Wenn das österreichertum etwas Berechtigtes, Eigenständiges, in sich Wertvolles sein soll •— so meinen wir —, dann muß es eine eigene Nation sein. Als ob es keine Werte, keine geistigen Wirklichkeiten gäbe, die über dem Nation-1 e n stehen! Liegt nicht vielmehr das Wesen des Österreichers eben darin, daß er, wenn er auch national, das heißt abstammungsmäßig vom Deutschtum her kommt und sich historisch aus ihm herausgegliedert hat, dennoch immer und jederzeit bereit ist, die europäischen Bindungen übernationaler Kultureinheit, christlicher Glaubensgemeinschaft und objektiver Rechtsordnung über das Nationale zu stellen? Hat nicht gerade das in der geschichtlichen Entwicklung ihn, den an der europäischen Gemeinschaft Festhaltenden, aus dem sich absondernden, partikularistisch, bewußt nationalistisch werdenden Deutschtum ausgegliedert? Nicht seine besondere Blut-misdiung, sondern gerade seine „übervölkische“ Gesinnung, die sich den aligemeirt-europäisdien, allgemein-christlichen und all-gemein-mensdilichen Bindungen verpflichtet weiß, hat ihn auch in der Vergangenheit fähig gemacht, Träger einer bewußt übernationalen Staatsidee zu sein, „Staatsvolk“ eines Rechtsstaates zu werden, der das Zusammenleben mehrerer Nationen in einem Staate unter vielen Fährlichkeiten und Fehlschlägen zu verwirklichen bemüht war und so eine eminent europäische Aufgabe zu lösen unternahm, österreichertum in diesem Sinn steht und fällt also nicht mit dem faktischen Bestehen einer solchen, der alten Monarchie entsprechenden Staatseinheit, und et ist daher auch gar nicht auf ein Fortleben dahin zielender imperialistischer Expansionsbestrebungen gegründet. Gewiß ist diese, europäisch orientierte Gesinnung, die den Österreicher ausmacht, in ihm dadurch erzogen worden, daß er Träger eines Staatsgedankens war, der nicht einem Nationalstaat, sondern christlich-europäischen übernationalen Rechtsstaat entsprach. Aber auch im kleinsten politischen Rahmen kann diese Gesinnung weitet bestehen, die das Allgemeinmenschliche, das an sich Rechtmäßige, das gemeinsame Geistige über das Nationale, das Besondere stellt. Daß das österreichertum sich aus der Enge des Nationalen von alters her zur Höhe der übernationalen Bindungen, der christlichen Katholizität, der europäischen Gemeinschaft, des allgemein-menschlichen Bewußtseins emporzuheben vermocht hat, das macht die Eigenständigkeit de österreichertums aus.

„Unfortunately“, bemerkt Dawson, „it is nobody's business to defend the cause of Europe.“ Unglüdtseligerweise sei es niemandes Obliegenheit, die Sache Europas zu verteidigen. Das ist — glücklicherweise — nicht so. Der Sinn und die Eigenbedeutung des österreichertumi steht und fällt mit dem Bestehen solcher übernationaler, übervölkischer, allgemein-europäischer Werte. Solange es den Österreicher gibt, wird a einen Fürsprecher übernationaler, europäischer Gemeinschaft geben. Aber wenn nur das Nationale ein Wert wäre, wenn nur das Nationale einen Sinn hätte, wenn man österreichertum nur vom Nationalen her begründen könnte, dann hätte österreichertum überhaupt keinen eigenen Sinn und keinen ureigenen Wert.

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