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Mitteleuropa

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Der bisherige Verlauf der Londoner Konferenzen bestätigt die Erwartungen, die man bei nüchterner Berechnung aller mitspielenden Tatsachen und Kräfte hegen konnte. Es ist kein Grund, Fahnen auszustecken, weder festliche noch schwarze, wie überhaupt auch der künftige Staatsvertrag, dessen Zustandekommen erlösend empfunden werden wird, Merkzeichen seiner Herkunft aus einer noch unausgeglichenen Gesamtsituation Europas an sich tragen dürfte. Bei aller vorsichtigen Einschätzung der noch zu überwindenden Schwierigkeiten darf man aber doch heute schon Wahrnehmungen verzeichnen, die nach Jahren der Despotie, der Demütigung und des sich Wiederftndens in Armut und Schwäche zu ermutigenden Ausblicken anregen.

Deutlich offenbart sich in London, daß stärker als die vorhandenen Gegensätzlichkeiten sich an den entscheidenden Stellen der Wille zu internationaler Zusammenarbeit und das Bewußtsein einer unermeßlich gewordenen Verantwortlichkeit erweisen. Man kann unnehmen, daß sich daraus ein System von Staatsverträgen entwickeln wird, das die internationale Friedensordnung ckr UNO noch zu verfeinern vermag. Zweitens ist feststellbar, daß die volle Einstimmigkeit der Mächte heute noch ebenso unzweideutig wie in- ihren Verträgen der Kriegszeit auf die staatliche Unabhängigkeit Österreichs gerichtet ist. Eine Debatte kann sich nur auf die wirtschaftlichen und poetischen Voraussetzungen beziehen, welche diese Unabhängigkeit erfordert. Zu dksen Voraussetzungen gehört heute, da Deutschland aus der mächtigen wirtschaftlichen Stellung als nachbarlicher groß'ndustrieller Lieferant und Einkäufer für lange Zeit ausscheidet, mehr denn je eine konstruktive wirtschaftliche Lösung in dem Gefälle des Donau-Moldau-Beckens. Das wirtschaftliche Problem Österreichs, soweit man überhaupt von einem Problem sprechen kann, ist ein solches des ganzen Donau-Moldau-Raumes. Diese Erkenntnis hat Unterstaatssekretär Lord Pakenham angedeutet, als er kürzlich in der Obcr-hausdebatte über Österreich erklärte, die englische Regierung werde die anderen Mächte zu überzeugen trachten, daß Österreich und seine Nachbarstaaten als eine wirtschaftliche Einheit ins Auge gefaßt werden müssen. Wie sehr naturgegebene Gesetze hier immer wieder zu einem geordneten Miteinander hinleiten, zeigt die ausgesprochen entgegenkommende verständigungsbereite Haltung, die von den Vertretern der Tschechoslowakei in London gegenüber Österreich eingenommen und durch die Erklärungen der österreichischen Repräsentanten im gleichen Geiste erwidert wird. Es bedarf wohl kaum eines ziffernmäßigen Nachweises und wirtschaftlicher Argumentationen, um die These zu rechtfertigen, daß die Schaffung eines vertraglichen Status, das eine zuverlässige, wirtschaftliche Interessenverbindung der beiden Staaten garantieren würde, selbst in lockerer Form jedem Teilnehmer zum Nutzen gereichen und unter den heutigen Verhältnissen einen entscheidenden Beitrag zur Befriedung und Wiederaufrichtung Europas bedeuten würde. Aus ähnlichen Erwägungen hat schon vor einigen Wochen der österreichische Bundespräsident im Rahmen eines Interviews die Schaffung einer Zollunion zur Erwägung gestellt.

Ist ein Mitteleuropa als wirtschaftlicher Organismus nur eine Vision? Eine schwere politische Hypothek lastet auf Namen und Begriff. Vor einem Jahrhundert war es der Plan des Fürsten Felix Schwarzenberg und seines Handelsministers Bruck, alle Staaten der habsburgischen Monarchie dem Deutschen Bunde zuzuführen und Mitteleuropa zu einer mächtigen Einheit m-

sammenzufügen. Das Unternehmen scheiterte und mußte scheitern an dem Widerstände der Westmächte und an dem Rußlands. Den Titel „Mitteleuropa“ trug das fatale Buch Friedrich Naumanns, das von dem Geist des wilhelminischen Deutschlands erfüllt, während des ersten Weltkrieges erschien. Die deutsche Propaganda, die den österreichischen Buchhandel damals mit dem Werk überschwemmte, pries es als politischen Koran, der den Krieg erst entwicklungsgeschichtlich legitimieren sollte und als Kriegsziel ein Mitteleuropa unter der Führung eines siegreichen Hohenzollern-Reiches hinstellte. Nie wäre diese Erfindung des preußischen Imperialismus lebensfähig geworden. Selbst das franzisco-jose-phinische Elfvölkerreich der Siebenundsechziger-Verfassung, das mit den Elementen einer mitteleuropäischen Gemeinschaft bedacht war, mußte es schließlich mit seiner Existenz büßen, daß es mit der Fiktion einer Führerstellung der Deutschen in Österreich geschaffen worden war. Wie immer man es ansieht — heute ist die Lage von Grund aus geändert. Heute vermag sich die wirtschaftliche Gemeinschaft des mitteleuropäischen Raumes auf Grundlagen zu kristallisieren, die keinem politischen und nationalen Argwohn ausgesetzt sind. Weder die Vorherrschaft einer Nation noch eines politischen Systems kann in Betracht kommen. Wenn einem solchen Vertragsinstrument auch für eine weitere Umgebung Bedeutung innewohnen könnte, so wäre es nur die eine, daß in einer wichtigen Zone Europas aus einer trostlosen Überschwemmung sich doch wieder trockenes, anbaufähiges, fruchtverheißendes Land erheben, nach einer Periode des Unterganges vieler kostbarer Werte, doch wieder eine der Rettung, der Erholung, des Aufstieges kommen würde.

Es mag Einwände geben — auch unter uns. Es wäre jedoch zu prüfen, ob diese Einwände nicht bewußt oder unbewußt noch aus einer Mentalität stammen, die in der Vergangenheit den Völkern schon teuer

genug zn stehen gekommen ist und die zu überwinden die Menschen unter der Zuchtrute schwerster Erlebnisse gelehrt worden sind.

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