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Poujade will zahm werden
Kann eine aus dem Ressentiment, aus dem Gefühl unaufhaltbaren Abstieges entsprungene politische Bewegung „konstruktiv“ werden? Der Poujadismus versucht dieses Experiment zur Zeit. Als Mendes-France vor vier Jahren aus Frankreich einen modernen Wirtschaftsstaat machen wollte, war der Poujadismus aus einem Schreckreflex von einer Sekte zu einer Massenbewegung geworden: sein Hauptklientel, der übermäßig aufgeblähte Kleinhandel (ein Speze-reiladen auf 60 Einwohner), spürte, daß die Operation vor allem auf seine Kosten vor sich gehen konnte. Aber der stürmische Vormarsch Poujades brach wieder ab: beim Umschalten vom wirtschaftlichen Existenzkampf auf die Politik zeigte er sich recht ungeschickt, und über die „unterentwickelten“ Departements südlich der Loire schien die Bewegung nicht hinauszugelangen. Und als Poujade selbst An-
fang 1957 so instinktlos war, sich auf dem ungünstigen Pflaster der Hauptstadt als Kammerkandidat zu stellen und kläglich geschlagen wurde, hielt man den Poujadismus dazu verdammt, sich wieder zu einer lokalen Sekte zurückzuentwickeln.
Das Ende des letzten Jahres brachte jedoch eine erstaunliche Wiederauferstehung des Poujadismus. Bei den Ergänzungswahlen in die Handelskammer gelang ihm ein Einbruch in breiter Front, obwohl man seinen Kandidaten alle nur möglichen Prozedurschwierigkeiten gemacht hatte. Wenn der Poujadismus auch nicht eine Bewegung ist, die das „System“ über den Haufen zu rennen vermag, so scheint es doch so etwas wie einen „poujadistischen Reflex“ zu geben: wie immer noch unzählige Arbeiter kommunistisch wählen, obwohl sie mit der Partei nicht mehr einverstanden sind (es ist eben „die Partei der Arbeiterschaft“), so scheint eben auch eine ganz bestimmte Klientel im Zweifelsfall für Poujade zu stimmen — selbst wenn sie ihn gar nicht mag. Diese Beobachtung ist nicht von uns, sondern Poujade trug sie persönlich, im dunklen Zweireiher und mit Krawatte, der Presse vor. Und die Beobachtung scheint uns zu stimmen. Das Erstaunliche ist bloß das Maß an Selbstreflexion und kühler Distanz, das Poujade selbst diese Beobachtung aussprechen ließ.
Daß seine Ratgeber den stürmischen Massenredner (und Nur-Redner) solche Dinge sagen ließen, hatte aber seinen guten Grund. Wenn Poujade sich auffällig zusammennahm, um die intime Pressekonferenz von etwa dreißig Leuten
nicht seiner Gewohnheit nach doch zu einer Massenversammlung werden zu lassen, so sollte das ein ausdrückliches Einschwenken auf den Weg der „Legalität“ und der konstruktiven Politik symbolisieren. Mit Betonung stellte Poujade fest, daß der Feind Nr. 1 seiner Bewegung nun nicht mehr die ungerechte Steuerverwaltung sei, sondern die „wirtschaftliche Anarchie“.
Was meint der genau durch die wirtschaftliche Anarchie hochgekommene Massenführer damit? Nun, Poujades Problem ist, daß er unbedingt über seine soziale und geographische Basis hinauskommen muß: bleibt er auf das kommerzielle Kleinbürgertum des Zentralmassivs beschränkt, so wird der Poujadismus ewig eine zwar lärmende, aber für das „System“ letzten Endes doch ungefährliche Minderheit bleiben. Die bisherigen Ausbruchsversuche mißlangen: die in die Bauernschaft, die in die Industriearbeiterschaft oder die akademische Jugend. Nun sucht Poujade auf ganz breiter Basis anzusetzen: der Graben zwischen dem Detailhandel und dem Konsumenten soll geschlossen werden, indem man ihnen als gemeinsamen Feind den übersetzten Zwischenhandel (die sogenannten „intermediaires“) vorzeigt, der vor allem an den übersetzten Preisen schuld sei. Es sei im gemeinsamen Interesse von Einzelhandel und Konsument, durch Ausschaltung dieser Parasiten eine Preisbaisse zu erreichen. (Was übrigens volkswirtschaftlich einiges für sich hat.)
Wie stellt Poujade sich das praktisch vor? In
den kommenden drei Monaten will er in neun Departementen von Westfrankreich, die weder zu den besonders begünstigten noch zu den besonders notleidenden gehören, einen Versuch machen, der bei seinem Gelingen auf ganz Frankreich ausgedehnt werden soll. Er will nämlich die so individualistischen Einzelhändler zu einer Einkaufsgenossenschaft zusammenschließen — etwas, was es in Nachbarländern Frankreichs, wie etwa der Schweiz, schon seit Jahrzehnten gibt, in Frankreich jedoch revolutionär wirken muß. Die Finanzierung soll durch die Zeichnung niedriger Anteilscheine (minimal 600 Schilling pro Kopf) durch viele Tausende von Genossenschaftern erfolgen. Diese sollen im Verkauf unabhängig und in der Wahl der Waren frei bleiben. Nur sollen fliegende Preiskontroll-Equipen der Genossenschaft ungerechtfertigte Preiserhöhungen zuungunsten des Konsumenten aufspüren und den undisziplinierten Ladenbesitzer ausschließen lassen. Das ausgerechnet bei den Poujadisten, zu deren „Kampfzeit“ der Widerstand gegen die fliegenden Steuerkontrolleure als Hauptinhalt gehörte ...
Werden die Massen, die Poujade in der Revolte gefolgt sind, ihm auch folgen, wenn er nun „Disziplin! Disziplin!“ predigt? Und wird er selbst diese Rolle durchhalten können, in der sich der alte Massenaufpeitscher offensichtlich noch nicht ganz heimisch fühlt? Der Ausgang dieses kuriosen Selbstzähmungsexperimentes ist abzuwarten.
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