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Digital In Arbeit

Wie Herakles am Scheideweg

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„Die deutsche Gewerkschaftsbewegung steht wie Herakles am Scheidewege: Sie kann den bequemen Weg einer quasi öffentlich-rechtlichen Institution und sie kann den schweren und dornenvolleren Weg der autonomen Widerstandsorganisation der arbeitenden Menschen gehen.“

Der streitbare Kollege Löhlbach, Mitglied des DGB-Bundesausschus-ses, der diese Alternative beim letzten DGB-Bundeskongreß in München äußerte, hielt mit seiner Entscheidung nicht zurück. Er verurteilte Schillers „konzertierte Aktion“, weil sie „zumindest nach ihren derzeitigen Spielregeln einseitig die Gewerkschaften binde, ohne gleichermaßen die Unternehmer in Zucht zu nehmen“. Er verurteilte die Große Koalition als „Sündenfall der parlamentarischen Demokratie“ und charakterisierte jene als Toren, die da „meinen, es sei möglich, sich mit dem etablierten Unrecht auf die Dauer zu arrangieren“.

Das Gegenteil vertrat auf dem gleichen Kongreß sein Kontrahent, der ursprüngliche Anwärter auf den leerwerdenden Stuhl von Ludwig Rosenberg, Kurt Gscheidle von der Deutschen Postgewerkschaft: „Ist es nicht so, daß wir in Tausenden von Fällen, sei es in allen möglichen Institutionen, sei es in den parlamentarischen Körperschaften, sei es in den Gemeinden und in allen Einrichtungen sonstiger Art, Verantwortung auf uns nehmen? Ist es da unsere Aufgabe, nur Widerstand zu leisten? Ist nicht dieser Kongreß mit seinen Anträgen und Beratungen der verschiedenen Anträge eine Aufforderung an uns, aktiv in das Geschehen, aktiv bei der Gestaltung dieses Staates und dieser Gesellschaft einzugreifen und mitzu'-helfen, jenen Verfassungsauftrag zu erfüllen, aus dieser Gesellschaft in diesem Land, aus diesem Staat ein Instrument zu machen, mit dem man die Gesellschaft immer mehr zum sozialen Rechtsstaat weiterentwik-keln kann?“

Beide Redner erhielten Beifall aus dem Parlament der Arbeit, in dem 430 Delegierte über Wohl und Wehe von 6,5 Millionen Mitgliedern zu entscheiden hatten. Und gerade diese beiden Diskussionsbeiträge dürften das Kernproblem am prägnantesten zum Ausdruck gebracht haben. Zwar bestehen innerhalb des DGB, in dem 16 Gewerkschaften nach dem Industrieprinzip — ein Betrieb, eine Gewerkschaft — zusammengefaßt sind, noch andere Schwierigkeiten, die diskutiert werden sollten: das Verhältnis der sich föderalistisch gebärdenden Einzelgewerkschaften zum zentralisierenden Dachverband; die oft an Majorisierung grenzende Vormachtstellung der IG-Metall sowie die Konkurrenz der Deutschen Angestelltengewerkschaft (DAG), die trotz relativ niederigerer Mitgliederzahlen — 471.000 gegenüber den 896.000 Angestellten im DGB — den Alleinvertretungsanspruch des Gewerkschaftsbundes empfindlich stört. Dazu kommen die Probleme der durch die eigene Größe bedingten Schwerfälligkeit sowie der schwindenden Anziehungskraft, die sich in rückläufigen Mitgliederzahlen auswirkt.

scheint doch auf der Ebene zu liegen, die in der Auseinandersetzung Lehlbach-Gscheidle zum Durchbruch kam. Und es ist nicht von ungefähr, daß die Kommunisten in der von der KPD zur DKP gemauserten Arbeiterpartei nach dem Münchner Kongreß den Gewerkschaften offen vorwerfen, sie hätten sich in die bestehende Gesellschaft der Bundesrepublik „integriert“. Eigenartigerweise ist es nun gerade das mit allem Aufwand propagierte Hauptziel der Gewerkschaften, die Mitbestimmung, das diesen Integrationsprozeß vorantreibt. Die führenden Funktionäre des DGB hätten wohl kaum an der konzertierten Aktion Schillers mitgewirkt, wenn sie nicht durch die eifrig geforderte Mitbestimmung zu einem Mittun geradezu verpflichtet gewesen wären. Rosenberg, Brenner und mit ihnen Spitzengewerkschaftler aller Schattierungen waren es denn auch, die auf dem Münchner Kongreß immer wieder Angriffe auf die konzertierte Aktion und auf die durch die Koalition mißliebig gewordene SPD abbogen, indem sie nur die Schwierigkeiten und Mängel der Zusammenarbeit in diesen Begegnungsformen, nicht aber diese selbst an den Pranger stellten.

Die führenden Gewerkschaftler, die bereits Mitbestimmung auf den verschiedenen Ebenen von großer Koalition, konzertierter Aktion, Aufsichts- und Rundfunkräten praktiziert haben und praktizieren, partizipieren dadurch offensichtlich immer mehr an der Verantwortung für die ganze Gesellschaft. Genau diese Form von Integration machen ihnen jetzt die Kommunisten zum Vorwurf und bemühen sich mit Erfolg, einen Teil des Fußvolks der Gewerkschaften sowie kleinere Funktionäre in Betrieben, wo solche Art von verantwortungsvoller Mitbestimmung noch völlig fehlt, vor ihren Karren der „autonomen Widerstandsorganisation“ zu spannen. Die neue Führung des Deutschen Gewerkschaftsbundes unter Heinz Oskar Vetter, der an der Ruhr die IG-Bergbau in die allgemeine Bergwerksgesellschaft integrieren half, hätte es allerdings in der Hand, diese unruhigen Kantonisten schneller, als es die zähen Mitbestimmungsverhandlungen auf Bundesebene erlauben, in die direkte Mitbestimmung und Mitverantwortung einzugliedern. Das Stichwort dazu gaben die Delegierten des Kongresses selbst. Warum — so fragten sie — wird nicht in sozialdemokratisch geführten Kommunen und Landesregierungen begonnen, die Mitbestimmung tatsächlich zu praktizieren? Warum bleibt Berlin isoliertes Beispiel für ein solches Vorgehen? Der DGB, eine der modernsten Zusammenfassungen von Einzelgewerkschaften überhaupt, hat auf seinem letzten großen Treffen in München gezeigt, daß er sich seines Grundproblems — Widerstand oder Integration — bewußt ist, selbst wenn er dieses noch durch allgemeines Reformgerede bemäntelt und für einen Sonderkongreß im Jahre 1971 aufgespart hat. Aber die auffallend wenigen Forderungen, den Streik als massivste Waffe des Widerstands wieder aufzupolieren sowie die oft von Beifall begleiteten Bekenntnisse zu Ordnung und Sicherheit zeigen, daß der DGB — zumindest vorläufig — seine Wahl getroffen hat. Es wird von der Führungsspitze der deutschen Gewerkschaftler und dann zunehmend auch von den Arbeitgebern abhängen, ob sie diesen Mitbestimmungswillen in geteilte Verantwortung zu integrieren imstande sind oder ob sie die Gewerkschaftler gegen ihren Willen dazu nötigen, autonome Widerstandsorganisation und Unruheherd par excellence zu werden.

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