6635763-1957_14_04.jpg
Digital In Arbeit

Viktor Agartz’ Glück und Ende?

Werbung
Werbung
Werbung

Die Nachricht von Viktor Agartz’ Verhaftung schlug wie eine Bombe ein. Der jahrelange Cheftheoretiker des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Leiter des Wirtschaftswissenschaftlichen Institutes des DGB, wurde in Untersuchungshaft genommen. Es besteht der Verdacht, daß er eit einiger Zeit vom sowjetzonalen sogenannten „Freien Deutschen Gewerkschaftsbund" Geld bekommen habe und — so lautet die Mitteilung de Oberbundesanwaltes in Karlsruhe — weiter bestehe der Verdacht, daß dieses Geld bestimmt gewesen sein könnte, der verbotenen KP in der Bundesrepublik zugute zu kommen.

Der Verhaftete war eine markante Figur im politischen Leben der Bundesrepublik und entsprach nicht den landläufigen Vorstellungen von einem sozialistischen Funktionär, etwa ein im Verneinen befangener, geistig eng behauster Werker. Er entstamnjt, geboren am 15. November 1897 in Remscheid, einer Metallarbeiterfamilie, zog aber die Hörsäle (Jus und Volkswirtschaft) von Bonn, Münster, Köln und Marburg der Werkbank vor. In seiner Marburger Studentenzeit waren sie ein unzertrennliches

Kleeblatt gewesen: Agartz, Ernst Lemmer, Professor Roepke, Innenminister a. D. Heinemann. Da Studium finanzierten sie mit der „Marburger Stadtbrille", ein Lokalblatt, quasi ein Vorläufer des „Spiegel“. Ueber die Werkstudentenbewegung stieß er zur Sozialdemokratie und machte seinen Aufstieg über die Genossenschaftsbewegung. 1931 Vorstandsmitglied der Kölner Konsumgenossenschaft, 1933 arbeitslos. In der Ruhepause Wirt chaftsprüferexamen, dann Direktor der Rheinisch-Westfälischen Revisions- und Treuhand-AG. Er kam viel herum im Ruhrgebiet und sah hinter die Kulissen. „Aus dieser Zeit kenne ich die Schliche der Manager", sagte er trocken.

Nach dem Krieg ist er Wirtschaftsminister der britischen Zone. Hans Böckler und Kurt Schuhmacher, seine Freunde, mußten ihn dazu drängen. Bald darauf landet er mit Hungerödem in einer Kölner Klinik. Man schreit 1947 und Deutschland hungert. Beim Wiederaufbau der Gewerkschaften hat er entscheidenden Anteil; das Gespann Böckler-Agartz (der besonnene realistische Praktiker und der bohrende, wissen schaftliche Theoretiker) formten in den Jahren nach dem Krieg die Gewerkschaft. Nach Böck- lers und Schuhmachers Tod wußte man niemand, der in die komplizierten wirtschaftlichen Fragen hätte eingreifen können. Da griff man nach dem Mann, der im Wirtschaftswissenschaftlichen Institut die Abteilung „Wirtschaftspolitik und Grundsatzfragen“ leitete und schickte ihn in die politische Arena.

Nun bestimmte er zwei Jahre lang maßgebend den Kurs des Deutschen Gewerkschaftsbundes und hält 1954 beim Gewerkschaftskongreß in Frankfurt sein großes Referat. Man muß ihn gesehen haben. Er brillierte, peitschte seine Sätze in ein gespanntes Auditorium, enthüllt aber damit seinen ganzen Fanatismus. Sein Programm enthält Sprengstoff, der genügte, um die ganze Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik aus den Angeln zu heben. Das ist nicht mehr der konservativ gekleidete, künstlerisch wirkende Mann mit den wasserhellen Augen, dessen schmale gepflegte Hände eher einem Dirigenten gehören könnten, der seine kultivierte Kölner Villa seit dem Tode seiner Frau, einer Aerztin, mit seinem Sohn Klaus, 29 und Volljurist, teilt, wo er Orchideen züchtet und Beethoven hört. „Die westdeutsche Wirtschaftsstruktur ruht auf den Bajonetten der Besatzungsmächte, und zwar in nicht geringerem Maße als die Sozial- und Wirtschaftsstruktur der Sowjetzone von den sowjetischen Panzern gedeckt wird“ (als ob es keinen 17. Juni gegeben hätte!), und: „In der heutigen Zeit ist die Gewinnbeteiligung ein politisches Problem, das den Zweck hat, den Arbeitnehmer seiner Gewerkschaft zu entfremden. Die Gewerkschaft muß aber über den Funktionär täglich im Betrieb gegenwärtig sein.“ Oder: „Mitbestimmung bedeutet nicht die Uebernahme der Mitverantwortung.“ Nach dieser Rede, Agartz’ Höhepunkt, erhoben sich zahlreiche kritische Stimmen, auch aus den eigenen Reihen. Prof. O. v. Nell- Breuning SJ., sein großer Gegenspieler, fragte im Jänner 1955 in München in einer Versammlung vor der Werkgemeinschaft christlicher Arbeiter: „Wohin führt Dr. Viktor Agartz den DGB?“ und formulierte dann scharf: 1. in einen Irrgarten staats-, gesellschafts- und wirtschaftspolitischer Wahnvorstellungen, 2. er führt in den politischen und klassenkämpferischen Radikalismus, 3. ich bedauere, es aussprechen zu müssen, er führt in die Verantwortungslosigkeit, 4. er führt den DGB in die Spaltung. Dann zerpflückte der bekannte Sozialrechtler mit messerscharfer Logik und brillanter Rhetorik Agartz’ radikale Wunschträume.

Als Agartz im April 1955 in einer Landesbezirkskonferenz des DGB in München die Delegierten zur Rebellion gegen die Düsseldorfer Bundeszentrale aufrief, um damit einen Umschwung in deren zögernder Haltung zur Wehrfrage zu erreichen, da hatte es aber schon, wie man in Bayern sagt, „geschnackelt“. Im Dezember hatte der Gewerkschaftsbund zwischen sich und seinem Chefideologen und intellektuellen Paradepferd, letztlich aus Anlaß einer ans Licht gekommenen peinlichen Brieffälscheraffäre, da Tischtuch zerschnitten. Und das erweist sich heute als kluge Tat. Agartz stürzte wohl von politischen Höhen, erlitt aber keine schweren materiellen Verletzungen. Von seinem Vertrag mit dem DGB, Unkündbarkeit bis zum 65. Lebensjahr, blieben immerhin noch 1500 Mark monatliche Abfindung. Die Aufsichtsratstantiemen aus sechs gewerkschaftlichen Gesellschaften, jährlich fast 30.000 Mark, dürften allerdings dahin sein.

Der nun erhobene Vorwurf, sich für

100.000 Mark an die Sowjetzone verkauft zu haben, ist ungeheuerlich. Die Zukunft wird zeigen, ob der Verdacht begründet war.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung