Hahmann

"Die Jugend als Sündenbock"

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In Krisenzeiten sind viele auf den Partner oder die Familie zurückgeworfen. Freunde ermöglichen ein Heraustreten aus der Privatsphäre. Ein Interview mit einer Freundschaftssoziologin.

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In Krisenzeiten sind viele auf den Partner oder die Familie zurückgeworfen. Freunde ermöglichen ein Heraustreten aus der Privatsphäre. Ein Interview mit einer Freundschaftssoziologin.

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Die Soziologin Julia Hahmann (Uni Vechta) hat ihre Doktorarbeit über die soziologische Bedeutung von Freundschaft geschrieben. Seither ist dieses Thema ein zentraler Bestandteil ihrer wissenschaftlichen Forschungen. Mit der FURCHE sprach sie über diese spezielle Form der und ab wann sie politisch relevant wird.zwischenmenschlichen Beziehung, deren Rolle in der Pandemie

DIE FURCHE: Was ist das Besondere an Freundschaft in Zeiten wie diesen?
Julia Hahmann: Dass es sich um eine Beziehung handelt, die selbst gewählt ist. Freundschaften sind eine Möglichkeit des Schrittes nach draußen. In Form von Austausch außerhalb einer engen privaten Sphäre. Natürlich gibt es Menschen, die mit ihren Freunden zusammenwohnen. Aber das ist die Ausnahme. Freundschaften sind entlastend im Vergleich zu vielen anderen Beziehungsformen.


DIE FURCHE: Inwiefern können uns Freundschaften innerhalb einer Epidemie entlasten?
Hahmann: Freundschaften sind häufig außerhalb jenes Kontextes – Partnerschaft, Kinder, Familie –, auf den wir coronabedingt derzeit vermehrt zurückgeworfen sind. Zwar ändern sich die Praktiken, wie wir unsere Freundschaften pflegen. Etwa indem die Grillfeier durch ein digitales Treffen ersetzt wird etc. Aber das ändert nichts daran, dass einen Freundschaften in schweren Zeiten stützen oder einen schlichtweg ablenken. Während andere Beziehungsformen in der Krisenzeit anihre Grenzen kommen, ist bei Freundschaften genau das Gegenteil der Fall.


DIE FURCHE: Wie das?
Hahmann: Viele Beziehungsgeflechte sind stressiger geworden oder liegen eng beieinander. Der Partner oder die Familie müssen sehr viel auffangen, da die Kontakte im Sportclub oder im Verein weggefallen sind. Freundinnen und Freunde dagegen sind der rettende Anker im Alltag. Das wertet Freundschaft gerade jetzt auf.


DIE FURCHE: Wie verhält es sich bei Heranwachsenden? Kann die Jugend Freundschaft problemlos ins Internet verlagern?
Hahmann:
Freundschaft hat schon immer auf Distanz funktioniert. Auch in der Generation meiner Eltern lebten die Freunde nicht unbedingt am gleichen Wohnort. Freundschaften wurden übers Telefon gepflegt, es gab Brieffreundschaften. Deshalb werden den Jugendlichen derzeit nicht unbedingt die Kontakte an sich genommen, sondern viel eher Erlebnisse auf der kollektiven Ebene.


DIE FURCHE: Sind die gesellschaftlichen Folgen für die Jugend in Bezug auf diese Entwicklung abschätzbar?
Hahmann: Das finde ich ganz schwierig. Das muss man empirisch erfassen, und dazu ist es zu früh. Das, was wir merken, ist, wie stark wir angewiesen sind auf soziale Kontakte. Wir alle. Und für Heranwachsende sind Freundschaften als Peer-Beziehung darüber hinaus deshalb so relevant, weil sie sich dadurch abgrenzen können, eigene Lebensinhalte entwickeln, eine Wahlbeziehung führen lernen.


DIE FURCHE: Ausgerechnet die Jungen geraten in letzter Zeit ins Kreuzfeuer der Kritik, weil einige von ihnen das Risiko, sich mit dem Virus zu infizieren und es weiterzutragen, nicht ernst genug zu nehmen scheinen.
Hahmann: Dass den Jugendlichen im öffentlichen Diskurs so viel Verantwortung zugeschoben wird, das gleicht für mich einer Nebelmaschine. Das ist Geraune, empirisch nicht erfasst. Die Jugend ist ein perfekter Sündenbock. Warum sind die Jugendlichen im Park ein Problem und die Erwachsenen im Restaurant nicht? Bei den einen wird es als abweichend wahrgenommen, den anderen wird automatisch ein höheres Verantwortungsbewusstsein zugesprochen. Fair ist das nicht.


DIE FURCHE: Wie oben angesprochen, hat die Krise vor allem gezeigt, wie wichtig soziale Kontakte für jeden von uns sind. Wird die Gesellschaft, die Politik daraus lernen?
Hahmann: Das wage ich zu bezweifeln. Die Erfahrung mit Kontaktbeschränkung und Lockerung hat auf eine ganz unschöne Art und Weise deutlich gemacht, wie priorisiert wird. Es ging viel um wirtschaftliche Belange und weniger um sozialpolitische bzw. jene, die auf einer Familien- oder Beziehungsebene liegen. Da ist die Idee stärker, dass das eine private Angelegenheit ist.


DIE FURCHE: Freundschaft ist demnach keine politische Kategorie?
Hahmann: Nein. Freundschaften werden zwar gewertschätzt, sie finden sich aber nicht in wohlfahrtsstaatlichen Maßnahmen oder Institutionen wieder.


DIE FURCHE: Würden Sie sich als Soziologin einen anderen Zugang seitens der Politik wünschen?
Hahmann: Das kommt darauf an. Wenn etwas sehr privat ist, dann wird es nicht so stark normativ aufgeladen oder mit Erwartungen konfrontiert. Das ist positiv. Aber es ist auch nicht möglich, eine Solidargemeinschaft mit der besten Freundin zu bilden, in der dann sämtliche Rechte und Pflichten zum Tragen kämen wie zum Beispiel in einer Ehe. Das wäre theoretisch denkbar. Ist es aber politisch nicht.


DIE FURCHE: Gibt es Forderungen in diese Richtung?
Hahmann: Es gibt Stimmen, die sagen, dass wir uns von der Fokussierung auf Paare verabschieden müssen. Angedacht ist eine breitere Sichtweise auf das Feld der Familie. Und Familie wäre dann wiederum nicht nur ein b iologisches oder intergenerationales Konzept, sondern ein Wahlkonzept.


DIE FURCHE: Welche Haltung vertreten Sie in dieser Hinsicht?
Hahmann: Ich bin zwiegespalten. Einerseits möchte ich, dass Freundschaft weiter frei existieren kann. Dass klappt aber nur, solange sie wirklich in Ruhe gelassen wird und nicht jemand auf die Idee kommt, Freunde im Pflegebereich oder in der Kinderbetreuung in die Verantwortung nehmen zu wollen.


DIE FURCHE: Seitens der Politik?
Hahmann: Genau. Das passiert in regelmäßigen Abständen. Man kann Freundschaft nicht an der einen Stelle vereinnahmen und an der anderen ausblenden.

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