SEELENVERWANDTE als die bessere Familie?

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Die zunehmende Flüchtigkeit von Partnerschaften führt zu einer Sehnsucht nach verlässlichen Freunden. Über das (allzu) hohe Ideal von Freundschaft -von Aristoteles bis heute.

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Die zunehmende Flüchtigkeit von Partnerschaften führt zu einer Sehnsucht nach verlässlichen Freunden. Über das (allzu) hohe Ideal von Freundschaft -von Aristoteles bis heute.

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Hannah F. hat mit Carrie, Miranda, Charlotte und Samantha aus der US-Erfolgsserie "Sex and the City" nicht viel gemein: Sie ist keine Journalistin, Rechtsanwältin, PR-Beraterin oder Galeristin, sondern arbeitet im Sozialbereich; sie ist auch nicht auf High Heels fixiert, sondern erfreut sich an Handarbeiten. Nur in einem Punkt teilen die 48-jährige Alleinerzieherin und die vier New Yorkerinnen ähnliche Ansichten: in ihrer Wertschätzung von Frauenfreundschaften -und der Ernüchterung, was Partnerschaften betrifft. "Die Beziehungen gehen, die Freundinnen bleiben", lautet das Resümée von Hannah F. im FURCHE-Gespräch. Die Journalistin Carrie Bradshaw, dargestellt von Sarah Jessica Parker, formuliert es nicht minder pointiert: "Freundinnen sind die Familie des 21. Jahrhunderts."

"Emotionaler Kapitalismus"

Das glauben auch immer mehr Soziologen. Während Niklas Luhmann noch 1994 meinte, dass historisch "die Liebe und nicht die Freundschaft das Rennen gemacht" habe, mehren sich heute die Stimmen jener, die angesichts immer fragilerer Partnerschaften dazu raten, Freundschaften einen höheren Stellenwert einzuräumen. Nach Ansicht der israelischen Soziologin Eva Illouz basieren Liebe und Leidenschaft längst auf den Prinzipien der Konsum-und Wegwerfkultur. Angesichts dieses "emotionalen Kapitalismus" wäre man gut beraten, Freundschaften ein ebensolches Gewicht zu verleihen wie intimen Beziehungen.

Tatsächlich nimmt der subjektive Wert von Freundschaften deutlich zu: Noch 1990 betrachteten etwa 45 Prozent der 14-bis 29-Jährigen in Österreich ihre Freundinnen und Freunde als "sehr wichtigen Lebensbereich", bei der letzten Jugend-Wertestudie im Jahr 2011 waren es bereits 77 Prozent. Der Faktor "Familie" landete mit 81 Prozent nur mehr knapp darüber. Aber auch bei den Älteren werden Freunde wichtiger: In deutschen Umfragen geben bereits zehn Prozent der 18-bis 55-Jährigen an, dass Freunde für sie im Zentrum des Lebens stehen. "Das ist kein Randphänomen mehr", weiß der Soziologe Janosch Schobin. Immer mehr jungen Leuten gelinge der Übergang von der Ausbildungs-in die Familiengründungsphase nicht; die Alternative sei der Aufbau eines Unterstützungsnetzwerks aus Freunden.

Wie wichtig Freunde für das Wohlbefinden sind, haben zahlreiche Studien belegt: Enge Freundschaften steigern das Selbstwertgefühl, schützen vor Stress und verlängern das Leben: Laut einer australischen Langzeitstudie mit 1500 Über-70-Jährigen haben Freunde sogar einen deutlich positiveren Einfluss auf die Lebenserwartung als der Kontakt mit den eigenen Kindern.

Für den deutschen Soziologen Heinz Bude (vgl. FURCHE Nr. 20) ist Freundschaft "eine der zentralen Relaisstationen des sozialen Zusammenhalts" - und noch viel mehr: Er sieht in ihnen auch die mögliche Rettung der alternden Gesellschaft. Fürsorgliche Freunde seien "ein dritter Weg" jenseits von Familie und Wohlfahrtsstaat. Das Pflegeproblem ließe sich gar nicht mehr anders bewältigen. Dass Freunde einander künftig waschen und wickeln werden, ist für Janosch Schobin unwahrscheinlich: Schließlich schrecken Freunde vor leibesbezogener Pflege zurück. Dass es aber in Richtung amikaler Fürsorge geht -etwa durch Hilfe im Alltag -, steht auch für ihn außer Frage.

Ähnlichkeiten ziehen sich an

Die Idee von Freundschaft wird sich also einmal mehr verändern -wie so oft in der Geistesgeschichte. In Platons Dialog "Lysis", wo die Freundschaft (philia) erstmals beschrieben wird, liegt der Fokus noch auf dem gegenseitigen Nutzen und der anziehenden Ähnlichkeit der Freunde -in Abgrenzung zur sinnlichen Liebe (eros) im "Symposion". Aristoteles bezeichnet die philia in seiner "Nikomachischen Ethik" hingegen als wesentlich für ein erfülltes Leben und unterscheidet drei Arten: die nützliche Freundschaft, die Lustfreundschaft und schließlich die Tugendfreundschaft, bei der der Eine dem Anderen "ein anderes Selbst" sei. Wobei Aristoteles selbst befürchtet, dass die meisten an diesem Ideal scheitern könnten: "O Freunde, es gibt keinen Freund!" soll er verzweifelt gerufen haben. Das Christentum kann der Idee der Freundschaft von Zweien weniger abgewinnen: Sein Ideal ist die universelle, selbstlose Liebe (agape), die sich nicht auf einen Einzelnen bezieht. Augustinus findet den Ausweg darin, individuelle Freundschaft als Weg zur höchsten Liebe, nämlich zu Gott, zu interpretieren. Die bis heute originellste Deutung liefert jedoch Oscar Wilde: Ein Freund sei demnach derjenige, der "dich von vorne" ersticht.

So weit wird es hoffentlich in guten Freundschaften nicht kommen. Dass auch sie nicht frei sind von Unfreundlichkeiten, ist aber anzunehmen. In ihrer Studie zu Frauenfreundschaften aus 1987 haben Luise Eichenbaum und Susie Orbach festgestellt, dass Mitgefühl und Wärme oft nahe an Wut, Verrat oder Neid liegen. Auch in heutigen Frauenfreundschaften geht es nicht immer selbstlos zu: Die Berliner Soziologin Erika Alleweldt hat Frauen aus unterschiedlichen sozialen Milieus -Journalistinnen, Sozialarbeiterinnen und Verkäuferinnen -hinsichtlich ihrer Freundschaftskonzepte befragt: Journalistinnen erweisen sich demnach als "egozentrische Netzwerkerinnen", die sich durch eine Vielzahl an Freunden inszenieren, dabei aber geringe soziale Verpflichtungen eingehen. Fürsorgliche Freundschaften finden sich am ehesten bei den Sozialarbeiterinnen, während die Verkäuferinnen den Schwerpunkt auf Familie legen und Freundinnen eher zur Flucht aus dem Alltag nutzen.

Was alle drei Gruppen eint, ist nach Alleweldt die zunehmende Schwierigkeit, Zeit für die Freundschaftspflege zu finden und dabei Gemeinsamkeiten herzustellen. Die Folge sei eine "Profanisierung" von Freundschaft, bei der es nicht mehr darum gehe, sich wie im romantischen Ideal auf den anderen einzulassen, sondern nur noch darum, sich gegenseitig auf den neuesten Stand zu bringen. (Wobei der verbale Austausch in Frauenfreundschaften wichtiger ist als bei Männern, wo eher das gemeinsame Tun im Mittelpunkt steht. Die Soziologen sprechen von "Face-to-Face"- bzw. "Side-to-Side"-Freundschaften.) Dass Freundinnen künftig die bessere Familie werden und füreinander im Alter einstehen könnten, sieht Alleweldt jedenfalls skeptisch.

Freunde als neue Familie? Wunschdenken!

Auch Susanne Lang, Redakteurin der deutschen Wochenzeitung Freitag, glaubt nicht wirklich daran -obwohl sie im Untertitel ihres Buches "Ziemlich feste Freunde" genau das behauptet: "Warum der Freundeskreis heute die bessere Familie ist", heißt es da. Im Inneren bezeichnet sie Carrie Bradshaws Prophezeihung hingegen als Wunschdenken: "Schon eher haben sich unsere Familien unseren Freundschaften angenähert", schreibt Lang. "Sie sind weniger autoritär und nicht zwangsweise bis ans Lebensende bindend ( ). Dafür sind sie aber auch fragiler und schneller aufzulösen, wenn das Glücksversprechen nicht mehr trägt." Mehr Freundschaftlichkeit könnte umgekehrt aber auch mehr Stabilität in Partnerschaften bringen als bloße Liebe: Wie schon Nietzsche glaubt auch der Heidelberger Psychotherapeut Arnold Retzer daran, dass "die gute Ehe auf dem Talent zur Freundschaft beruht".

Hannah F. sieht ihre Lage derweil nüchtern: "Meine Beziehungen zu Freundinnen sind wohl deshalb dauerhafter als zu Männern, weil die Intensität geringer ist. Man geht sich nicht so schnell auf die Nerven, weil man sich nicht täglich sieht." Ein Letztes, was sie von "Sex and the City" unterscheidet.

Mein anderes Selbst

Sie sind einander ähnlich, sie haben vergleichbare Interessen und meist auch eine gemeinsame Geschichte: Gute Freundinnen und Freunde sind ein wesentlicher Faktor des Lebensglücks. Ist dieses Netz so tragfähig wie eine Familie? Wie zeigt sich Freundschaft in der Politik, im Internet, zwischen den Kulturen oder zwischen Männern und Frauen? Ein Schwerpunkt über die vielen Seiten der "philia".

Redaktion: Doris Helmberger

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