"Freiheit, die unterdrückt"

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Der Schweizer Soziologe, Politiker und Bestseller- Autor Jean Ziegler über die verschiedenen Dimensionen der Globalisierung: Dank moderner Technik wächst die Welt zum globalen Dorf zusammen. Dabei kommt es aber zu verheerenden sozialen und wirtschaftlichen Umbrüchen in den Ländern des Südens: Hunger, Krieg, Seuchen...

Die Furche: Manche sagen, man kann genau so wenig gegen die Globalisierung wie gegen die Schwerkraft sein. Ist Globalisierung so etwas wie ein Naturgesetz?

Jean Ziegler: Man muss unterscheiden. Es gibt die Instrumentalität, die die Weltherrschaft des kapitalistischen Produktionsprozesses ermöglicht hat, etwa den einheitlichen Cyberspace: Ein Genfer Bankier korrespondiert mit seiner Filiale in Tokio mit Lichtgeschwindigkeit, die Computer können in Sekundenschnelle Milliarden von Daten abhandeln. Diese technisch-wissenschaftliche Errungenschaft ist gegeben und potenziell universal. Aber die Herrschaftsstrukturen, die die Globalisierung hervorgebracht hat, sind von Menschen gemacht, daher nicht unvermeidbar - und sie sind mörderisch. Jeden Tag sterben auf diesem Planeten etwa 100.000 Menschen an Hunger oder an dessen unmittelbaren Folgen. 826 Millionen Menschen sind permanent schwerstens unterernährt. Gleichzeitig werden unglaubliche Reichtümer angehäuft. Also die globalen Herrschaftsstrukturen, die diese Globalisierung hervorgebracht hat, sind nicht unabänderlich. Weil sie mörderisch sind, müssen sie umgestoßen werden.

Die Furche: Die Aussage "Die Reichen werden immer reicher, die Armen immer ärmer" ist also in Ihren Augen kein Schlagwort?

Ziegler: Das ist die Weltbankstatistik, ich kann sie Ihnen zeigen. Die Monopolisierung führt zu immer größerer wirtschaftlicher Macht in immer weniger Händen. Und das Heer der Verstoßenen nimmt zu.

Die Furche: Verschärft sich diese Entwicklung?

Ziegler: Ja. Im letzten Jahrzehnt ist das Pro-Kopf-Einkommen in 81 Ländern gesunken. Die Lebenserwartung in Ruanda liegt heute bei 40 Jahren, in Frankreich bei 74 Jahren. Dieser Unterschied war früher nicht so krass. Der medizinische Fortschritt kommt praktisch exklusiv dem Norden zugute. Im Süden haben wir die vier apokalyptischen Reiter: Hunger, Durst, Krieg und Seuchen. Epidemien, die von der Medizin längst überwunden sind, wie Cholera, Typhus, Malaria, Schlafkrankheit, fordern Millionen von Opfern...

Die Furche: Sie sagten, da wirkten keine Naturgesetze...

Ziegler: Der Neoliberalismus funktioniert mit der Grundlüge, dass er sagt: Wir praktizieren keine Ideologie, sondern konkretisieren die Naturgesetzlichkeiten der Wirtschaft. Deshalb sei jeder, der gegen einen einheitlichen Weltmarkt ist, ein einsamer Spinner, er habe keine Ahnung, wie das funktioniert. James Wolfensohn, Präsident der Weltbank, sagt, der Horizont der Geschichte - wenn also die Liberalisierung bis zum Ende gegangen ist - ist "stateless global governance", also Autoregulation des Weltmarktes. Der Mensch ist evakuiert aus der Geschichte, nicht mehr Geschichtssubjekt. Darum sage ich: Wir stehen an der Schwelle eines Zivilisationsbruches. Der Neoliberalismus, diese Theorie von der Naturgesetzlichkeit wirtschaftlicher Vorgänge, bedroht radikal die Werte der Aufklärung. Auf Basis dieser Werte haben wir 250 Jahre lang gelebt: Macht kann nur ausgeübt werden, wenn sie delegiert ist vom Volk, revokabel; die Menschenrechte sichern die individuelle und kollektive Existenz; der Gesellschaftsvertrag garantiert Freiräume, Solidarität, soziale Gerechtigkeit und so weiter. Diese Grundwerte der Aufklärung und die Institutionen, die mit ihnen einhergehen (Nationalstaat, Republik), werden vom Neoliberalismus radikal negiert. Der Raubtierkapitalismus bedroht die Zivilisation an sich.

Die Furche: Man könnte zynisch fragen: Ist es nicht doch ein Naturgesetz, dass der Mensch so gierig ist?

Ziegler: Die Frage ist berechtigt. Gier ist der einzige Motor dieses ständigen Expansionsdenkens. Dieser unendliche Trieb nach Geld, Herrschaft und Macht treibt die Globalisierung. Jean Jacques Rousseau hat im "Contract social" (Gesellschaftsvertrag) gesagt: Zwischen dem Starken und dem Schwachen ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit.

Die Furche: Welcher Gesetze würde es bedürfen, um heute die Schwachen zu befreien?

Ziegler: Letztes Jahr haben die größten 200 transkontinentalen Konzerne 23,8 Prozent des Bruttoweltproduktes kontrolliert. Um die Macht der Konzerne zu brechen, gibt es drei Theorien. Erstens die Chevènement-Theorie: Man muss die Republik wiederherstellen, die territoriale Normativkraft, und die Börsen schließen, wenn es nötig ist, um die nationale Territorialkompetenz über die wild wütenden Spekulanten wiederzugewinnen. Bei der Präsidentschaftswahl in Frankreich hat Chevènement damit fünf Prozent gemacht. Das funktioniert also nicht.

Dann gibt es Jürgen Habermas, der sagt: Das Gemeinwohl ist nicht mehr verteidigbar durch den Nationalstaat. Es kann nur von der UNO wahrgenommen worden. Ich arbeite bei der UNO und sage: Sie lebt in totaler Schizophrenie. Dort agieren auch Weltwährungsfonds und Weltbank, die täglich die minimalen Fortschritte, die Unicef oder FAO in Asien oder Afrika realisieren, wieder annullieren.

Die Furche: Was strebt ihr Weg, die "planetarische Zivilgesellschaft", konkret an?

Ziegler: Sie will den Weltwährungsfonds und die Welthandelsorganisation auflösen, sämtliche Fiskalparadiese schließen. Sie will die Unabhängigkeit der Zentralbanken liquidieren, die Nahrungsmittelbörse von Chicago schließen, sämtliche Patente auf lebende Organismen verbieten. Sie will die Auslandsschulden der ärmsten Länder ersatzlos gestrichen haben, die Tobinsteuer und eine öffentliche Fusionskontrolle einführen... - ein konkreter Forderungskatalog also.

Die Furche: Was kann jetzt der Einzelne dazu tun?

Ziegler: Bewusstsein schaffen. Es gibt keine Entschuldigung für freie Bürgerinnen und Bürger, lethargisch, indolent, indifferent oder faul zu sein.

Die Furche: Sie haben vorhin die Französische Revolution erwähnt. Erwarten Sie einen Ausbruch ähnlicher Art?

Ziegler: Es gibt eine Kumulation der Negation, und dann gibt es einen Aufstand. Wie der aussehen wird, das weiß kein Mensch.

Das Gespräch führte Heiner Boberski.

Streiter für die planetarische Zivilgesellschaft

Jean Ziegler, geboren am 19. April 1934 in Bern, Professor der Soziologie in Genf und Paris, hat sich nie ein Blatt vor den Mund genommen. In jungen Jahren prägten ihn seine Freundschaft zu Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir und ein zweijähriger Afrika-Aufenthalt als UN-Experte nach der Ermordung Patrice Lumumbas. ("Ich habe mir geschworen, nie wieder, auch nicht zufällig, auf der Seite der Henker zu stehen.") Als Abgeordneter der Sozialdemokratischen Partei gehörte Ziegler von 1967 bis 1983 und von 1987 bis 1999 dem Schweizer Parlament an, er ist UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung. Mit zahlreichen Publikationen, vor allem mit den Büchern "Die Schweiz wäscht weißer" und "Die Schweiz, das Gold und die Toten", hat er sich einen Namen als Streiter gegen Gewinnsucht und Ausbeutung gemacht. Gegenwärtig wirbt er für eine "planetarische Zivilgesellschaft", die Druck macht, um die Fehlentwicklungen der Globalisierung zu stoppen. In seinem neuen Buch "Die neuen Herrscher der Welt und ihre globalen Widersacher" zeigt er die Gegensätze zwischen Arm und Reich auf und prangert die Profitgier der Konzerne an.

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