Sterben wir an der Medizin?

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Arzt und Autor Günther Loewit stellt die Erwartungshaltung einer ganzen Gesellschaft infrage: Nämlich, dass gegen alles eine geeignete Tablette oder Operation verfügbar sein müsse.

Günther Loewit, Gemeindearzt im niederösterreichischen Marchegg, beschreibt die moderne Medizin als "Win-win-Situation für alle außer den Steuerzahler“: Die Pharmaindustrie könne ihren Profit maximieren, die Ärzte ihr Risiko minimieren, die Politik alles kontrollieren - und die Patienten sich in besten Händen wähnen, ohne ihren Lebensstil hinterfragen zu müssen.

Die Furche: Ich frage Sie gleich in Hinblick auf Ihren Buchtitel: Wie viel Medizin überlebt der Mensch?

Günther Loewit: Immer öfter sterben Patienten an der Therapie. Hauptsache, man hat die Krankheit bekämpft. Durch das voreilige Verschreiben von Antibiotika in der Human- und Veterinärmedizin haben wir multiresistente Keime gezüchtet. Allein in Europa sterben so jährlich 45.000 bis 50.000 Menschen, die meisten im Spital. Ein anderes Beispiel: Im Rahmen einer schwedischen Studie wurde aus einer Auswahl von 3600 verstorbenen Patienten lediglich bei etwa 180 dieselbe Todesursache festgestellt: Davon sind 80 Prozent an inneren Blutungen gestorben, die durch blutverdünnende Medikamente ausgelöst werden.

Die Furche: Worin erkennen Sie einen Missbrauch der modernen Medizin?

Loewit: Die moderne Medizin bietet jedem, der jammern will, einen organischen Grund. Durch das ständige Senken von Normwerten entstehen immer neue, medikamentös behandlungsbedürftige Patienten. Es gibt keine Gesunden mehr, sondern nur schlecht Untersuchte. Weder ist ein erhöhter Laborwert gleich ein Krankheitsindiz, noch stellt die Behandlung eines Laborwertes alleine eine effiziente Behandlung dar.

Die Furche: Wo liegt dann das Problem?

Loewit: Die wahre Ursache des Klagens liegt meist im psychischen Nichtwohlbefinden. Weil für das gesprochene Wort kaum noch Zeit bleibt, kommt Krankheit als Kommunikationsmittel immer größere Bedeutung zu. Die Kraft der Psyche wieder als festen Bestandteil von Diagnostik und Therapie einzuführen, wäre der Schrecken aller Qualitätssicherer und Zertifizierer, aller, die Medizin als Machtapparat nutzen wollen. Die heutige Medizin erkennt nur pharmakologisch therapierbare Krankheiten als solche an. Es wäre kostengünstiger, den seelischen Krankheitsaspekt anzuerkennen.

Die Furche: Wie argumentieren Sie, dass jede Krankheit einen sozialen Aspekt hat?

Loewit: Sonst müssten ja alle krank werden, wenn ein Virus grassiert. Wer eine Ruhephase braucht, wird leichter krank. Kinder werden krank, wenn sie mehr Liebe bräuchten. Wer im Alter alleine ist, wird eher dement als jene, die in ein Umfeld eingebettet sind. Der psychosomatische Aspekt lässt sich bis zum Krebs fortsetzen: 70 Prozent aller Krebspatienten sind Angstpatienten.

Die Furche: Wie wirken sich die Wirtschaftsinteressen der Pharmakonzerne aus?

Loewit: Die Pharmaindustrie kontrolliert die medizinische Forschung und Fortbildung. Am meisten Forschungsgelder werden in jene Medikamente gesteckt, die unheilbare Krankheiten behandeln sollen. Ein Grazer Forscherteam untersuchte die Wirkung von Antioxidationsmitteln auf Krebs. Das Team erhielt keine angemessenen Gelder, weil damit kein Geschäft zu machen ist. Für die Pharmaindustrie ist es das Allerschönste, wenn Menschen ständig Tabletten schlucken und nie gesund werden, etwa bei Bluthochdruck und Blutzucker.

Die Furche: Woran krankt das österreichische Gesundheitssystem?

Loewit: Das Gesundheitssystem hat einen Komplexitätsgrad erlangt, der nicht mehr beherrschbar ist. Der Verwaltungsaufwand im Spital liegt inzwischen bei etwa einem Viertel des Umsatzes, in der Industrie nur bei sechs Prozent. Wir haben 21 Krankenkassen, dabei würden drei Kassen reichen.

Die Furche: Sehen Sie baldige Reformen?

Loewit: Am System werden sich nur langsam Kleinigkeiten ändern, weil zu viele Machtinteressen dahinterstecken. Der Gesundheitsminister ist nur ein Rad im Getriebe von Sozialversicherungen, Krankenhausverbänden, Pharma- und IT-Industrie. Die Ärzte müssten mehr Selbstbewusstsein haben und sich weigern, da mitzuspielen.

Die Furche: Wie beurteilen Sie die medizinische Ausbildung in Österreich?

Loewit: Zum Studium werden nur wissenschaftliche Typen zugelassen. Der menschlich-kommunikative Aspekt geht verloren.

Die Furche: Sie sprechen von Präventionswahn und Panikmache. Vorsorgeuntersuchungen können aber auch Leben retten.

Loewit: Rechtzeitige Vorsorge macht schon Sinn, kann aber nicht die nötige Eigenverantwortung ersetzen: Wenn Leute übergewichtig sind oder rauchen, sollte ihnen bewusst sein, dass ihr Verhalten gesundheitsschädlich ist. Zudem sind Vorsorgeuntersuchungen nicht individuell strukturiert: Eine Darmspiegelung wäre bei genetisch vorbelasteten Leuten schon mit 30 sinnvoll.

Die Furche: Wie geht die moderne Medizin mit dem Tod um?

Loewit: Der Tod wird heute als medizinisches Versagen gesehen. Dabei ist das Überleben des Menschen stets nur eines auf Zeit. Wenn mich Patienten fragen: "Muss ich sterben?“, sage ich: "Ja, aber nicht jetzt“. Die oberste Gesundheitsmaxime bleibt unangetastet: Dass die Lebensdauer das Maß aller Überlegungen ist, nicht die Lebensqualität.

Die Furche: Wie äußert sich diese Maxime?

Loewit: Der Tod wird mit allen Mitteln hinausgezögert: Krebspatienten werden wenige Stunden vor ihrem Tod an die letzte Chemotherapie angeschlossen. 90-Jährigen werden Herzschrittmacher oder neue Hüften implantiert. Auch demente Menschen werden primär am Leben erhalten: Sie bekommen Spezialbetten, Pflegedienste, hochpreisige Medikamente. Keine einzige Studie beweist, dass diese Medikamente etwas nützen. So verursachen die letzten sechs Lebensmonate im Schnitt gleich hohe Gesundheitskosten wie das gesamte Leben zuvor.

Die Furche: Menschen sterben nicht mehr daheim im Kreise der Familie. Die Sterbebegleitung durch Geistliche nimmt auch ab.

Loewit: Die Medizin beansprucht in ihrem Allmachtsstreben auch die Seele des Menschen für sich. Sämtliche Zuständigkeiten der Religion hat sie übernommen: Den Glauben an ein Schicksal, das Geborgenheitsgefühl, die Selbst- und Nächstenliebe, die Unterordnung unter eine Autorität. Das Bedürfnis nach körperlicher Unversehrtheit und Schönheit ist heute größer als die Sehnsucht nach Religion. Zunehmend überfüllte Spitäler stehen leeren Kirchen gegenüber.

Die Furche: Sie schreiben "Wenn wir vom Leben nicht mehr müde werden, wollen wir nicht mehr sterben.“ Sind denn nicht immer mehr lebensmüde - Stichwort Burn-out?

Loewit: 2 Millionen Österreicher sehen sich als burn-out-gefährdet. Nicht die Menschen sind krank, sondern die Anforderungen an sie. Krankheiten spiegeln sensibel die Schwachstellen einer Gesellschaft wieder.

Die Furche: Wo würden Sie beginnen, eine kranke Gesellschaft zu heilen?

Loewit: Nicht bei den Sterbenden, wie wir es derzeit tun, sondern bei den Kindern. Sie werden ständig medizinisch kritisiert: Angeblich brauchen sie Zahnregulierungen, Schuheinlagen, haben psychologische und Leistungsdefizite. Wie soll ein Kind so ein "gesundes“ Selbstbewusstsein entwickeln?

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