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Am grünen Tisch von Evian

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Die Verhandlungen zwischen der französischen Regierung und dem FLN in Evian werden schwierig sein. Das liegt schon in der Verschiedenheit der Partner begründet, die sich da zusammen an einen großen grünen Tisch setzen. Auf der einen Seite die Vertreter einer einstigen Weltmacht, die nun, nach so vielen Niederlagen, eine weitere Position räumen müssen und alles daransetzen werden, dabei nicht zu sehr das Gesicht zu verlieren. Auf der anderen Seite die Vertreter einer aufsteigenden, erst im Entstehen begriffenen farbigen Nation, mit all dem abgrundtiefen Mißtrauen gegen die bisherige Kolonialmacht und dem noch nicht ausbalancierten Selbstbewußt- sein, die solchen neu sich bildenden Organismen eigen sind. Allein schon diese grundsätzliche Verschiedenheit der Verhandlungspartner kann Funken provozieren.

Hinzu kommt jedoch, daß keine der beiden Seiten ihre Hände ganz frei hat. In beiden Lagern gibt es Spannungen zwischen „Gemäßigten“ und „Harten“, und das Kräftespiel zwischen diesen Tendenzen wird Taktik und Strategie auf der algerischen wie auf ihrer Seite, daß diese Tendenzen Die Algerier haben dabei den Vorteil auf irer Seite, daß diese Tendenzen bei ihnen noch von der gleichen Organisation überdacht sind (denn man kann kaum mehr ernsthaft in Anspruch nehmen, daß noch jemand anderer außer dem FLN als Sprecher der Algerier angesehen werden kann). So ist bei ihnen eine offene Auseinandersetzung zwischen den Fraktionen und damit die Herausarbeitung einer „Generallinie“ möglich. Auf französischer Seite jedoch ist die Opposition der „Harten" teils in den Untergrund gegangen, teils steckt sie im Gefängnis, und zu einem erheblichen Teil tarnt sie sich wohl auch in Stellungen, von denen aus die Aktion der Regierung sabotiert werden kann. So muß die französische Regierung sich im Grunde an zwei Fronten ays dein nordamkanisenen . DepakeJ noch etwas zu retten, und zœlçich Jmt sie alles daranzusetzen, in ihrem Rük- ken eine weitere Explosion im eigenen Lager zu verhindern. Das schwächt die französische Position, die ohnehin schon an dem Handikap leidet, daß im Prozeß der Entkolonialisierung die stärkeren Verbündeten auf der Seite des sich emanzipierenden Volkes zu finden sind: die Roten beider Observanz, die Amerikaner, die bereits Emanzipierten der „dritten Welt" der Neutralisten, nicht zu vergessen die westeuropäischen Nationen mit einem schlechten Gewissen, und als wichtigster von allen Verbündeten ganz einfach — die Zeit.

Das Schwierige an der französischen Position wird an dem offensichtlichen Widerspruch zwischen zwei Zielsetzungen sichtbar, mit denen die Pariser Delegation nach Evian zieht — ein Widerspruch, der mit den Worten „Selbstbestimmung" und „Assoziation" fixiert ist. Die Zauberformel von der „Autodétermination“, der „Selbstbestimmung" der Völker war das hauptsächliche Werkzeug, mit dem de Gaulle seiner Algerienpolitik den Weg gebahnt hat. Und das ist kein Zufall. Die „Ultras“ haben ja bei ihrer Weigerung, die nordafrikanische Stellung zu räumen, den Buchstaben der Verfassung auf ihrer Seite (und sie haben das — man denke an den Barrikadenprozeß — auch weidlich ausgenützt). Auch nach der gaullistischen Verfassung ist die Republik „ein und unteilbar“ (une et indivisible), so daß die Entlassung eines Teiles des Territoriums der Republik in die Unabhängigkeit einen Verfassungsbruch darstellt. Algerien gilt aber nach französischem Staatsrecht als Bestandteil der Republik. So souverän de Gaulle auch bisher mit seiner eigenen Verfassung umgesprungen ist — bei der immer noch so starken „Juridifizie- rung“ alles Politischen in Frankreich kann er die Einwände gegen seine Algerienpolitik von dieser Seite her nicht auf die leichte Schulter nehmen. Es bleibt ihm darum gar nichts anderes übrig, als diejenige Geistesmacht zu mobilisieren, die allein die Verfassung noch zu dominieren vermag: nämlich die iakobinische Ideologie, aus welcher die Republik seit 1789 lebt. Zu diesem Ideoiogienbestand gehört aber gleichrangig mit der „Freiheit — Gleichheit — Brüderlichkeit“ eben jenes „Selbst bestimmungsrecht der Völker“. Das Tragische an der französischen Situation ist nur, daß Frankreich im 19. Jahrhundert mit dem Export dieser Formel seine Weltmachtstellung ausbaute, während es mit ihr heute seinen Rückzug aus dieser Stellung abdeckt.

Das ist jedoch nicht der einzige Grund, weswegen de Gaulle seine Sendboten in Evian dazu anhalten muß, das Panier der Selbstbestimmung hochzuhalten. Sie ist ja zugleich für ihn die einzig noch verbliebene Handhabe, mit der er den Totalitätsanspruch des FLN in Algerien zu bremsen vermag. Sie erlaubt ihm immer dann, wenn der FLN in Anspruch nimmt, als der einzig legitime Sprecher der sich bildenden algerischen Nation anerkannt zu werden, ihm ent- gegenzuhalten: „Aber wir waren uns doch darüber einig, daß die Bevölkerung Algeriens in der Selbstbestimmungsprozedur selbst sagen soll, wer ihr Sprecher ist! "

Wozu nun die andere Vokabel von der „Assoziation“, welche de Gaulle ebensooft verwendet wie die von der „Autodétermination“ — ein Widerspruch zur Selbstbestimmung? Das liegt darin, daß in Frankreich das Problem der „Ultras“ noch nicht bereinigt ist. Nach dem mißglückten Generalsputsch sieht man zwar kaum mehr eine Möglichkeit, wie die zivilen und militärischen Ultras Frankreich noch ihre Politik aufnötigen könnten. Aber sie sind doch immer noch imstande, durch Verzweiflungsausbrüche Unheil anzurichten, ja sogar Frankreich in eine Katastrophe hineinzureißen — schon deshalb, weil ja das gegenwärtige französische Regime allein auf den beiden Augen eines 71jährigen Mannes ruht. Weil also diese Hypothek noch nicht behoben ist, muß die französische Delegation in Evian alles daransetzen, einen Erfolg zu erringen, mit dem man die Erregung auf der Rechten dämpfen kann. Und ein solcher Erfolg kann der Lage der Dinge nach nur noch in etwas .bestehen!,darin nämlich, daß sich der FLN jetzt schon verpflichtet, nicht die völlige Unabhängigkeit Algeriens anzustreben, sondern irgendeiner Art von Verbindung — sprich „Assoziation“ — eines halb unabhängigen Algeriens mit Frankreich zuzustimmen. Damit allein könnte sich de Gaulle des schleichenden Vorwurfs erwehren, ein „bradeur", ein Verschleuderer der französischen Positionen zu sein.

Gerade an diesem Punkt aber könnte sich ein bemühender Taubstummen-

dialog ergeben. Die Repräsentanten des FLN könnten da ihrerseits die „Selbstbestimmung“ als Waffe verwenden und ausrufen: „Aber wir waren uns doch darüber einig, daß die Bevölkerung Algeriens in der Selbstbestimmungsprozedur selbst sagen soll, wie sie sich die Zukunft Algeriens vorstellt! “ Wie geschickt und starrsinnig zugleich die algerischen Nationalisten die Parolen der Französischen Revolution gegen deren Ursprungsland auszuspielen wissen, haben wir schon vor einigen Jahren erlebt, als wir einen Nachmittag lang bei Kamillentee versuchten, aus Messali Hadj, dem Urvater des algerischen Nationalismus herauszubringen, wie er sich die Zu kunft eines unabhängigen Algeriens vorstellt. Auf jede präzise Frage (Wollen Sie nationalisieren? Welche Rechte werden die Europäer haben? usw.) antwortete er, freundlich lächelnd: „Es steht für mich nur eines fest: Es muß eine verfassunggebende Versammlung gebildet werden, die von allen in Algerien lebenden Menschen — jeder Bewohner des Landes eine Stimme — gewählt wird. Diese Versammlung wird alles Weitere festlegen.“ Und wenn sich die Männer des FLN auch von ihrem alten Patron gelöst haben, so weiß man doch, wieviel sie von ihm gelernt haben

Die Zwangslage, in die Frankreich bei den Verhandlungen durch die beiden sich widersprechenden Zielsetzungen gerät, könnte aber eine geschickte FLN-Diplomatie dazu ausnützen, um ihre beiden Hauptziele zu erreichen. Das ist nicht mehr die Anerkennung der Repräsentativität des FLN — die ist de facto und stillschweigend vom Verhandlungspartner längst anerkannt (und vor allem ist sie es auch vom Ausland). Worum es dem FLN m Evian vor allem gehen wird, ist zweierlei: erstens um die Unteilbarkeit Algeriens (das heißt Verzicht Frankreichs auf eine „palästinensische Teilung“ des Landes) und zweitens die Zugehörigkeit der Sahara zu Algerien. Bei letzterem vermögen auch sie das formale Recht gegen de Gaulle auszuspielen: Wie jeder französische Schulatlas zeigt, galt die Sahara bis vor kurzem — das heißt, solange der französische

Besitz Algeriens unerschütterlich schien — als in ihrer Gesamtheit zu Algerien gehörig. Die französischen Versuche der letzten Zeit, wenigstens die Stellung in der Sahara, zu retten, und zwar durch gleichmäßige Beteiligung aller Anrainerstaaten an ihrer Erschließung, können damit vom FLN kontrekarriert werden. Er hat ja zudem etwas in die Waagschale zu werfen, was die anderen an die Wüste grenzenden halb und ganz unabhängigen Staaten nicht aufzuweisen haben: nämlich die neben der französischen Armee allein ins Gewicht fallende Armee dieses Raumes.

Kurzum: Der FLN könnte die Angewiesenheit de Gaulles auf ein „Assoziationsversprechen“ oder gar eine „Assoziationsverpflichtung“ dazu ausnützen, um in den für ihn entscheidenden Punkten — Unteilbarkeit Algeriens und Zugehörigkeit der Sahara — seinen Standpunkt durchzusetzen. Sollte das nicht gelingen, so kann es sich der FLN eher als Frankreich leisten, die Verhandlungen scheitern zu lassen. Er hat ja den von de Gaulle oft zitierten „Wind der Geschichte“ in seinem Rücken.

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