Balkan-Route: Die Stadt der zerstörten Handys

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Das noch immer vom Bürgerkrieg der 1990er geprägte Land ist das Zentrum einer neuen Dynamik auf der Balkanroute.

Fast alle im Park erzählen Geschichten, von Schlagstöcken und Tritten, und von Handys, die ihnen von Polizisten abgenommen oder zerstört werden.

Erinnern Sie sich an Idomeni? Das griechische Dorf, an der Grenze zu Mazedonien, an der weit über zehntausend Geflüchtete im Winter 2015 strandeten? An Horgos, den serbischen Übergang nach Ungarn, wo Migranten im Spätsommer 2015 mit Tränengas zurückgedrängt wurden? Orte wie diese wurden im Zuge der Flüchtlingskrise vor fast drei Jahren in ganz Europa bekannt. Anfang 2016 wurde es still auf der sogenannten Balkanroute. Der umstrittene EU-Türkei- "Deal", die geschlossenen Grenzen in Ungarn, Kroatien, Serbien, Mazedonien und Slowenien führten dazu, dass das Thema aus den Schlagzeilen sowie aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwand. Bis zum Frühjahr 2018.

Das Städtchen Velika Kladusˇa hat das Potential, ein solcher Schauplatz zu werden. Niemand weiß, wie viele der mehreren Tausend Geflüchteten hier vorbeikamen, die seit Jahresbeginn in Bosnien-Herzegowina registriert wurden. Klar ist: Das noch immer vom Bürgerkrieg der 1990er geprägte Land ist das Zentrum einer neuen Dynamik auf der Balkanroute. Velika Kladusˇa, ganz im Norden gelegen und nur eine Hügelkette von Kroatien und damit der EU entfernt, ist einer ihrer wichtigsten Punkte.

Die meisten, die hierher kommen, waren lange in Serbien gestrandet, wo sie vergeblich nach einem Schlupfloch nach Kroatien und Ungarn suchten. Zahlreiche Fälle gewaltsamer Push-backs sind dokumentiert -illegale Rückführungen, ohne dass Migranten die Chance bekommen, einen Asylantrag zu stellen. Seit dem Frühjahr kommen immer mehr nun aus Serbien nach Bosnien. Eine zweite Route führt von Griechenland über Albanien und Montenegro ins Land.

Fliegende Fäuste

Mitte Mai befinden sich etwa 600 Migranten in Velika Kladusˇa. Sie campieren in leerstehenden Gebäuden oder dem nicht mehr gebrauchten Hangar des Flieger-Clubs. Die größte Gruppe hat sich in einem Park niedergelassen, direkt unterhalb der Moschee, im übersichtlichen Zentrum des Städtchens. So nah die Grenze ist, so unmittelbar präsent sind die schmerzhaften Erfahrungen jener, die auch hier von der kroatischen Polizei zurückgebracht werden.

Fast alle im Park erzählen Geschichten, von Schlagstöcken und Tritten, und von Handys, die ihnen von Polizisten abgenommen oder zerstört werden. In Gesten stellen sie die Szenen nach: Fäuste fliegen bis kurz vor die Bildschirme, Knie schnellen hoch, wie um sie bersten zu lassen. Erhobene Arme schwingen imaginäre Schlagstöcke. Akram Alshouli, der früher in Damaskus einen Laden hatte, ist mit Mitte 30 einer der Älteren hier. Sein rechtes Bein ist verletzt, mühsam stakst er auf einer Krücke durch den Park. "Ich habe starke Schmerzen. Im Moment kann ich nicht versuchen hinüberzukommen", sagt er. "So kann ich nicht mal weglaufen! Mein Geld und mein Handy haben sie mir auch abgenommen."

Ein paar Tage zuvor stellte die kroatische Polizei Akram Alshouli nachts im Wald. "Sie schlugen mich und schubsten mich. Ich fiel hin und verdrehte mir das Knie." Nun bleibt ihm nichts als Warten und sich zu sorgen. Um eine Gruppe aus dem Park etwa, elf Personen, die neulich nachts loszogen, und von denen man seither nichts mehr hörte. "Ihr Messenger ist aus, und sie haben sich nicht gemeldet, so wie wir das sonst tun, wenn jemand es nach Slowenien schafft." Der Übertritt nach Slowenien, weiß Akram Alshouli, ist wesentlich gefährlicher als der nach Kroatien, der Grenzfluss Kolpa reißend und voller Strömungen. "Letzte Woche sind vier Menschen dort ertrunken", sagt Akram. Hilfsorganisationen sprechen von "mindestens dreien".

Als die Sonne tiefer steht, fährt ein blaues Auto im Park vor. Frauen packen Suppentöpfe aus und verteilen Plastikschalen und Brot. Daneben steht ein junger Mann mit zwei kleinen Kindern an der Hand. Er stellt sich als Muamer Catic´ vor und ist der Imam der nahen Moschee. Das Essen stammt aus der Gemeinde. Warum sie den Menschen helfen?"Weil sie Hunger haben! Und das hat nichts damit zu tun, dass die meisten Flüchtlinge Muslime sind. Ein Mensch muss etwas essen", betont der Imam. Eine Rolle spielt dagegen die eigene Kriegserfahrung, welche die Bosnier solidarisch mache. Oben bei der Moschee steht ein Monument mit rund 200 Namen. Insgesamt, sagt Muamer Catic´, wurden etwa zehn Mal so viele Bewohner des Städtchens zwischen 1992 und 1995 getötet.

Weiter mit dem Bus

Im unteren Teil des Parks entsteht Bewegung. Eine Gruppe junger Pakistanis packt die Habseligkeiten. Decken werden eingerollt, Rucksäcke aufgeschnallt, dann machen sie sich auf den Weg. Schnell liegt das Zentrum hinter ihnen. Vorneweg läuft Ahmat, ein 17-Jähriger mit Baseballcap, auf dem Rücken ein Smurfs-Rucksack, den er bei einer Kleidungs-Ausgabe in Bulgarien bekommen hat. Ahmat stammt aus dem Grenzgebiet zu Afghanistan, wo die Taliban für größere Probleme sorgen. Ein Jahr und acht Monate ist es her, dass er dort aufbrach, erzählt er, während die Gruppe durch verschlafene Seitenstraßen zieht. Rosen blühen in Vorgärten, ab und an schaut ihnen jemand von einer Veranda aus nach. Ein paar streunende Hunde bellen, sonst nimmt niemand Notiz von ihnen.

Vor einem Friseur-Salon halten sie kurz an. Einige Nachzügler kommen hinzu. Gemeinsam steuert man den Bahnhof unten im Tal an, wo ein Bus zu einem anderen kleinen Ort an der Grenze fahren soll. Für Ahmat ist es der erste Versuch. Die Aussicht macht ihn "scared" - ängstlich. "Wegen all der Geschichten über die kroatische Polizei, die Gewalt, die zerstörten Telefone." Am Busbahnhof angekommen, wartet die Gruppe. Nach einer Stunde hören sie vom Nachtportier, der seine Schicht begonnen hat, dass der Bus an diesem Tag nicht fährt. Wochenende.

Am nächsten Mittag haben sich Dutzende Migranten um ein Restaurant abseits des Zentrums versammelt. Das Restaurant existiert eigentlich nicht mehr. Der Besitzer, Asim Loti´c, ist Mitte 60 und hat sich zur Ruhe gesetzt. Doch seit Februar bewirtet er mit einigen Helfern aus der Stadt jeden Tag Migranten. Die Kosten zahlt er aus eigener Tasche. In einem Heft hat er alles mit Strichlisten dokumentiert. "20.000 Mahlzeiten haben wir serviert", sagt er. Alleine am Vortag waren es 451.

Brandherde löschen

Vor dem Restaurant sitzt ein Mann, den alle hier "Pixi" nennen. Er sieht aus wie ein schon etwas in die Jahre gekommener Punk - mit Dreadlocks, rasierten Seiten und Stiefeln. Auf einer Liste notiert er alles, woran es gerade mangelt: Jacken, Hosen, Medikamente. Seit 2015 versucht er, die Brandherde der Balkanroute zu löschen, beinahe ohne Pause. "Dies ist meine siebte Grenze", sagt Pixi. Was sie charakterisiert? "Dass es die letzte Chance ist. Und die Hilfsbereitschaft der Menschen." Um letzteres zu illustrieren, stellt Pixi den Besitzer des Cafés nebenan vor. Auch er ist jenseits der 60. "Früher war er Polizist. Heute wäscht er zu Hause manchmal Klamotten der Migranten."

Es ist eine bemerkenswerte Allianz, die sich in Velika Kladusˇa um Geflüchtete kümmert. Seit Ende Mai hat sie einen neuen Einsatz-Ort: Nachdem die Kommune den Park räumen ließ, stellte sie den Bewohnern eine Wiese außerhalb der Stadt zur Verfügung. Die erste Essens-Ausgabe dort hat schon stattgefunden. Auch einige Decken wurden ausgeteilt, an frisch angekommene Familien. In den kommenden Monaten dürften die Helfer noch ausführlicher gefordert sein: Von Griechenland aus sollen derzeit mehrere Zehntausend Migranten unterwegs sein. Es scheint, als werde Europa in diesem Sommer noch nach Bosnien schauen.

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