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Die Republik der Ingenieure

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Nach seinem triumphalen Wahlsieg rüstete Präsidente de Gaulle zu einer neuen Offensive. Die zweite Legislaturperiode der V. Republik soll zu einer „Ära der Realisationen“ werden. Eine soziale Welle, eine soziale Revolution von oben soll den mächtigen Block der KP überspülen, die sich trotzig in der gaullistischen Springflut behauptete und den allzu ungebärdigen Gewerkschaften den Wind aus den Segeln nehmen. Von Grund auf erneuert und modernisiert, soll das der algerischen Hypothek ledige Frankreich für eine „Politik der Größe“ vorbereitet werden. Es ist ein kühnes Programm, wie es bisher noch kein französischer Staatsmann ins Auge zu fassen wagte — außer vielleicht Mendes-France.

Der Apparat für das große Unternehmen steht. Die zweite Regierung Pompidou, die 20 Minister und vier Staatssekretäre zählt, ist im Sattel, nur geringfügig retuschiert, mit den bekannten, bewährten Technokraten, großen Staats-Commis und unbedingten

Gaullisten in den Schlüsselpositionen. Der Berufsdiplomat Couve de Murville bleibt am Quai d'Orsay; Messmer führt die durchgreifende Armeereform und Atomumrüstung weiter; die Zügel der 100.000 Mann starken Polizeiarmee und der sehr verzweigten „Sürete“ behält der nicht allzu populäre, aber machtbewußte Innenminister Frey, einer der großeen Chefs der UNR; die blühenden Staatsfinanzen mit einer Rekorddollarreserve von 3,6 Millarden verwaltet wie bisher der erst 36jährige

Giscard d'Estaing, ein Genie der Bilanzen mit Sinn für Publicity, und als belebendes geistiges Unruheelement Kultusminister Andre1 Malraux, der Gründer der „Assoziation für die V. Republik“ im inneren Kreis. Die Kontinuität der gaullistischen Politik ist also auch im Detail gewährleistet.

Daneben verdienen zwei Neubesetzungen Beachtung. In das besonders wichtige, aber gefürchtete Unterrichtsministeriums, das seit 1958 sieben Minister verschlang, zieht der 50jährige Christian Fouchet ein — ein Name, der besonders anzukreuzen ist. Vom stillen Botschafterposten in Kopenhagen (mit Planungsaufgaben für die Politische Union der sechs Marktländer nebenbei) stieß Fouchet über eine sensationelle Feuerlöschrolle als letzter Krisenvizekönig in Algerien zur Kernmannschaft des Regimes vor. Er ist einer der wenigen Männer in der Umgebung des Generals, denen der Wille zur Macht auf die Stirn geschrieben ist. Als Unterrichtsminister wird der vielleicht größte Meister nationaler Seelenmassage nach de Gaulle einen besonders wichtigen Sektor des nationalen Reformprogramms dirigieren: die Anpassung des.noch in der napoleonischen Schablone steckenden Schulwesens an die Erfordernisse des modernen Industriestaates. Die zweite wichtige Neuerung: Der Berufsdiplomat, brillante Taktiker und Architekt des Evian-Vertrags, Joxe, übernimmt als Staatsminister die Reform der ebenfalls ziemlich versteinerten Verwaltung, eine Aufgabe, vor der schon mancher kapitulierte.

Der Tod der Lobbies

Dieser Exekutive des Generals, der souverän die Linie bestimmt und der nur dem Volk selbst verantwortlich ist, wird künftig keine Instanz mehr in die Arme fallen. Die Nationalversammlung ist revolutioniert, gezähmt und solide beherrscht von der absoluten Mehrheit der UNR und ihrer gaullistischen Verbündeten. Sie hat sich bei Beginn ihrer Sitzungsperiode so glatt und sanft wie noch nie organisiert. Mit erdrückender Mehrheit wurde der bisherige gaullistische Kammerpräsident wiedergewählt, der „Be-freiungsgeneral“, Tennisstar und immer elegante, aber etwas kalte Charmeur der weiblichen Wählerschaft, Chaban-Delmas, der seine Hausmacht in Bordeaux hat. Ebenso glatt ging die Besetzung der politischen Ausschüsse über die Bühne. Mit verfassungsrechtlich delikaten „Ordonnanzen“ zu regieren, ist fortan nicht mehr erforderlich.

Nicht minder bedeutsam als die Umschichtung der parteipolitischen Mehrheitsverhältnisse ist die Dezimierung der Lobbies, vor allem im Lager der konservativen Unabhängigen. Dieser Interessendschungel, der bis in die jüngste Zeit anachronistische, mittelalterliche Wirtschaftsformen und Pfründe abschirmte, war ein Krebsschaden für Parlament und Land. Keine Regierung vermochte sich durchzusetzen gegen die mächtigen Interessenvertretungen der Händler und Zwischenhändler, die den Preis vom unterbezahlten Erzeuger bis zum stöhnenden Verbraucher vervielfachten; der Zuckerrübenpflanzer, die auf Staatsgarantie und Staatskosten Jahr für Jahr weit über jede Absatzmöglichkeit produzieren; der Millionen von Fuselbrennern; der unrationell arbeitenden Kleinbetriebe; der Großagrarier, Fleischer und so immer weiter. Das Symbol für diese Rückstände, die et neben einem supermodernen Frankreich immer noch gibt, sind die Pariser „Hallen“, der gewiß malerische, aber chaotische Großmarkt der Weltstadt. Trotz immer neuer Anläufe hat es seit dem Krieg keine Regierung geschafft, diesen Sumpf auszuräumen.

Für diese Absurditäten schlägt nun die Todesstunde. Die Macht der Lobbies, die noch Debre so zu schaffen machte, ist vorbei. Die Hälfte der 482 Abgeordneten, unter denen sich nur acht Frauen befinden, sind Neulinge. Das Frankreich der Notablen, der Würdenträger und Pfründenverwalter macht einer Republik der Techniker und Manager Platz.

Das Gesetz der Expansion

Die Verbündeten der neuen, gaullistischen Staatsgewalt sind die großen Wirtschaftsmächte, die sich über den nur noch in den USA und in der Bundesrepublik waltenden absoluten Liberalismus hinweg — nach den Gesetzen der Massenproduktion und der Massengesellschaft orientieren, die sich nicht mehr auflehnen gegen ein gewisses Maß vorausschauender staatlicher Planung. Das große Patronat ist (ich bewußt, daß ihre eigene Wohlfahrt auf die Dauer abhängt von der Kontinuität der Expansion und der Kontinuität der Konsumausweitung, die nur der Staat mit seinen Steuerungsmöglichkeiten gewährleisten kann.

Die sozialen und politischen Konsequenzen ergeben sich von selbst. Die immer komplizierter und streikanfälliger werdende Industrie muß in Ruhe produzieren, und das Volk muß kaufen können. Der kleine Mann soll also verdienen. Wenn er gut verdient, hat er wenig Neigung, auf politische oder gewerkschaftliche Barrikaden zu gehen. Der allgemeine Sozialfrieden ist also ein Ziel des Regimes, ein Staat in Wohlfahrt, Zufriedenheit und Ordnung, der freilich auch die ungeheuer kostspielige Atombombe produzieren und eine äußerst anspruchsvolle Wehrund Außenpolitik tragen soll...

Der Exponent dieses neuen Wirtschafts- und Sozialkonzepts ist der charmante, sehr kluge, wenn auch nicht immer brillante Premierminister Pompidou, der mi£ der gleichen sou-, veränen Nonchalance im Hotel Ma-tignon die Zügel führt, wie einst als Dirigent des Rothschild-Finanzimperiums. Er steht dem General, dem er auch bei der Abfassung seiner Memoiren half, zweifellos am nächsten. Dabei muß gesagt werden, daß sich Frankreich schon seit dem Krieg zum „Plan“ bekennt, zu einer weichen, elastischen Form des Staatsdirigismus, der sich unter geschmeidigen französischen Händen ganz und gar anders ausnimmt als in der Sowjetunion. Es waren die Technokraten aus der Schule des großen Europäers Monnet, die die erste Durchbruchsschlacht planwirtschaftlicher Modernisierung gewannen, die das herabgewirtschaftete Eisenbahnnetz völlig reorganisierten —, bis 1970 soll keine Dampflokomotive mehr laufen, die in großem Stil die Erschließung der Wasserkräfte einleiteten, die die Stahlindustrie zu einer der modernsten Europas machten. Das Kernstück des ganzen Regimes ist der „Vierte Plan“, der so eine Art Glaubensbekenntnis des ganzen Regimes ist und der in Fünfjahresfrist das Sozialprodukt um rund 25 von Hundert vermehren soll. Um diesen Plan ranken sich dann eine Reihe gewaltiger Einzelprojekte.

Unterentwickelter Wohnungsbau

Besonders hervorzuheben ist dabei der Wohnungsbau, der von bisher rund

300.000 Einheiten auf jährlich 500.000 gesteigert werden soll. Frankreich ist ja das wohnungspolitisch „unterentwickeltste“ Land Mitteleuropas; das Land der schlimmsten Slums, des grö-8ten Fehlbedarfs und rückständigster Wohnverhältnisse. Jede sechste der rund 14 Millionen Wohnungen ist überbelegt (im Pariser Raum sogar jede vierte). Von nicht minder großer Bedeutung ist die Schulreform. Zunächst muß duch ein riesiges Bauprogramm die massive Geburtenwelle der Nachkriegsjahre aufgefangen werden.

Parallel laufen sollen eine Modernisierung der Lehrpläne, die noch im napoleonischen Schema stecken, eine Verlängerung der allgemeinen Grundschulzeit (zunächst bis 16, später vielleicht bis 18 Pflichtschule), Öffnung der Universitäten und höheren Schulen für die unteren Schichten. Die höheren Schulen und Universitäten sollen sechsmal soviel Techniker und zweimal soviel Ingenieure und Manager wie bisher liefern. De Gaulle will Frankreich auf den Bildungsstandard unseres technischen Zeitalters bringen.

Fouchet, der das Riesenwerk leiten soll, verfügt dabei schon 1963 über einen Etat von 10,8 Milliarden NF oder 14 vom Hundert des 76,8-Mil-liarden-Staatshaushalts. Bis 1970 soll der Schuletat in allmählicher Steigerung auf 25 vom Hundert des Staatsbudgets gebracht werden!

Die sozialpolitische Abrundung des Programms bildet schließlich die von Pompidou schon früher proklamierte „gerechte Verteilung der Früchte der Expansion“ mit jährlicher Anpassung der Löhne an den Stand der Produktion. Unternehmer, Gewerkschaften und Regierung sollen in ständigem Kontakt die sozial- und arbeitspolitische Linie festlegen. Direkte Gewerkschaftsaktionen und Streiks sollen im Konferenzsaal „institutionalisiert“ werden. Der Senat soll eine Art Wirtschaftskammer mit ständischen Zügen

Auf harten Widerstand wird der General jedoch in den kommunistisch beherrschten Gewerkschaften treffen. Nur eine kleine Minderheit, vor allem christlicher Gewerkschaftler, ist zur Zeit geneigt, das Experiment zu wagen.

Pompidou und Fouchet haben freilich schon während des Wahlkampfes bestritten, die Entwicklung könnte zu einer „Einheitspartei“ und zu bona-partistischen Abenteuern führen. Chaban-Delmas hat nachdrücklich einer bloßen „Registrierkammer“ abgesagt. Aber die Praxis der Macht hat doch ein anderes Gesicht — und das „souveräne Volk“ wird in der Umarmung des Komforts, der Autos, der Ferien, des Fernsehens und der Weekends politisch gleichgültig. Aber das ist eine ziemlich allgemeine Folge der breiten sozialen Evolution, der rasanten „Amerikanisierung“ Europas.

Präsident de Gaulle respektiere das Glaubensbekenntnis seines Jahrhunderts, das Glaubensbekenntnis von 1789, und er hüte sich, die Tempel der gestürzten Götter anzutasten, schrieb dieser Tage eine prominente Feder in „Le Monde“. Der „General-Präsident eignet sich heute die .autoritäre und antiparlamentarische' Königsgewalt des Programms der .Action Francaise' an ... 1945 warf de Gaulle Maurras ins Gefängnis. Aber er blieb seiner Doktrin treu, die er zwischen den Weltkriegen in sich einsaugte, wie so viele andere Offiziere...

Gebt mir eine Million Franken ...

Sie ist vor allem eine Konsequenz des Ohnmachtsgefühls immer zahlreicherer Bürger, die den Glauben daran verloren haben, man könne mit dem Stimmzettel noch gegen gewisse Zwangsläufigkeiten und politische Auswirkungen des technischen und Managerzeitalters aufkommen. Wozu, fragen sie, noch Abstimmungen und Befragungen, wenn ja die Entwicklung die gestellte Frage innerhalb kurzer Zeit doch anders beantworten wird als die Mehrheit? Die Stimmenthalter, die so empfinden, sind Kapitulanten. Wie weit sie recht und wie Weit sie unrecht haben, ist hier nicht zu untersuchen. Sicher aber ist, daß die politische Abstinenz um so ernster zu nehmen ist, als sie gewisse aktive Gruppe n in Versuchung führt, die direkte Demokratie mit der unfreiwilligen Mithilfe der sich desinteressierenden Mehrheit für ihre Sonderzwecke auszubeuten und damit die Demokratie zu verfälschen.

Ein bekannter schweizerischer Reklamefachmann, der die Propaganda für eine unpopuläre Abstimmungsvorlage, die einem Wirtschaftszweig eine „Spezialwurst“ verschaffen sollte, durchgeführt und es dabei verstanden hat, die Volksmeinung umzustimmen, soll einmal erklärt haben: „Gebt mir eine Million Franken, und ich führe euch jede beliebige Parole zum Erfolg I“ Es ist eben für den Bürger nicht immer einfach, eine Vorlage oder ein Abstimmungsargument richtig zu bewerten, wiewohl der Sinn für die Politik und das Gespür für das rechte Maß als Ergebnis generationenlanger Beschäftigung mit politischen Sachfragen im Schweizer Volk tief verwurzelt sind. Dabei ist zu berücksichtigen, daß in der Schweiz diese Beschäftigung nicht nur auf die Bundesebene beschränkt ist und nicht beim Bunde beginnt, sondern im leichter überschaubaren, das eigene Interesse jedes Bürgers direkt berührenden Kreis der Gemeindeaufgaben und der Kantonalpolitik: hier lernt der Schweizer fast von Kindesbeinen an. sich als Mitentscheidender und Mitgestaltender politische Sachfragen zu beurteilen. Die eidgenössische Referendumsdemokratie würde ohne diese politische Grundschulung kaum funktionieren. Auch so ist die Gefahr noch groß, daß der Bürger oft nach Gefühlen, Empfindungen, nackten Interessen oder Leidenschaften urteilt. Daher der oben zitierte Ausspruch des politisierenden Reklamefachmannes, der zwar eine Übertreibung ist, aber ein Korn Wahrheit enthält. Daher auch die Ablehnung des Frauenstimmrechts, die nichts zu tun hat mit einer Geringschätzung der Frau, sondern einzig aus der Überzeugung kommt, daß Mann und Frau ganz verschiedene Aufgaben und Funktionen haben — auch im öffentlichen Leben.

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