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Seine Majestät der einzelne

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Bei jeder amerikanischen Wahl wiTd das Problem der Wählerblöcke neu diskutiert. — Für wen werden die Gewerkschaften stimmen, für oder gegen wen werden sich die Katholiken entscheiden, die Neger, die Farmer ... ? Der allgemein verbreiteten Vorliebe für statistische „facts and figures“ ausgiebig Rechnung tragend, unterziehen Kommentatoren, Soziologen und Wahltaktiker immer wieder die Aussichten der einzelnen Kandidaten einer minuziösen Analyse mit Bezug auf ihre Anziehungskraft auf bestimmte Interessengruppen, Altersschichten, konfessionelle, rassische oder sich aus gemeinsamer nationaler Herkunft ergebende Sonder-„Belange“. — Im Grunde beweisen die Ergebnisse all der Rundfragen, die jeweils solchen Betrachtungen zugrunde liegen, nur wenig.

Ihre Gültigkeit ist so stark an den speziellen Zeitpunkt der Fragestellung, an den — begrenzten — Ort der Erhebung und die Aktualität von zur Diskussion stehenden Einzelfragen gebunden, daß sie zwar manchmal nachträglich den Ausgang einer Wahl verständlicher machen, aber fast nie eine auch nur annähernde Voraussage zulassen.

Die Vorstellung, daß es jemals ein geschlossenes Gruppenvotum der zirka 16 Millionen gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmerschaft, der zirka 23 Prozent der Gesamtwählerschaft darstellenden amerikanischen Katholiken, der farbigen Bevölkerung (vori elf Millionen an sich wahlfähigen Negern haben 1956 2,700.000 Gelegenheit gehabt, sich an der Wahl zu beteiligen!) geben wird, wäre ebenso irreal wie etwa die Hoffnung, daß man die kompakte Zahl der 16 Millionen, die mehr als 65 Jahre alt sind, oder die in jedem Jahr um sechs Millionen sich ergänzende Schicht der 21 Jahre alt werdenden Jungwähler „geschlossen“ einsetzen, anziehen oder auch nur einkalkulieren könnte.

Diese Illusion hat im Grunde auch kein Kandidat.

Worum es sich bei der systematisch betriebenen Werbung der beiden Parteiapparate innerhalb der unterschiedlichen „Wählerreservoirs“ in der pluralistischen Gesellschaft handelt, ist der Versuch, durch möglichst weitgehende Identifizierung der Parteiplattform mit den speziellen Forderungen, Sorgen, Einzelproblemen und „Grundsätzen“ der einzelnen Gruppe, und zwar energischer und schärfer als der Gegenkandidat, eine große Anzahl, wenn möglich die größte, der ansprechbaren Wortführer der Einzelkollektive dazu zu veranlassen, sich öffentlich mit einer Empfehlung für den betreffenden Prätendenten an die eigene „Gefolgschaft“ zu wenden.

Sie dazu zu veranlassen, kostet viel Lavieren, erfördert viel Kompromisse, verlangt mancherlei — nicht selten sich widersprechende — Versprechungen und Zusagen gegenüber den Einzelinteressen der „benötigten“ Partialkollektive.

Aber man scheut das nicht: Bei Vorbesprechungen der programmatischen Formulierungen beider Wahlplattformen sind Vertreter der Gewerkschaften, der Unternehmer, der Farmer ebenso zu Rate gezogen worden wie Repräsentanten jüdischer, katholischer oder protestantischer Gruppen oder Führer der NAACP (National Association for the Advancement of Colored People). Für die Wahlkampagne 1960, die deutlich von beiden Seiten mit sozial fortschrittlichen Parolen, nicht zuletzt mit militantem Aufgreifen der Zivilrechtsfrage (Gleichberechtigung der Neger) geführt wird (neben fast gleichlautender Versicherung, außenpolitisch wehrhafte, aber gesprächsbereite Haltung beizubehalten!), appelliert man vor allem an Altersrentner und Farmer (vom Ökonomischen her), an die Jugend, die liberale Intelligenz (Hinweis auf „neue Ufer“!), an die in Bewegung geratene farbige Bevölkerung (Neger und teilweise Porto-^rikaner) und die großenteils deren Forderungen stützende Arbeiterbewegung.

Keine der beiden Parteien, deren Kandidaten sich um die Präsidentschaft der Vereinigten Staaten bewerben, stellt die Nation vor eine ideologische Entscheidung, beiden gehören „Konservative“ und „Liberale“ an. Beide umfassen Angehörige aller Berufsstände, Konfessionen, Rassen und Nationalitäten. Beide nehmen für sich in Anspruch, jenseits „privater“ Weltanschauungen und Interessen das Gesamtinteresse Amerikas zu vertreten. Ob der demokratische Senator Kennedy oder der republikanische Vizepräsident Nixon also im November gewählt werden wird, hängt erstens von der Anziehungskraft ab, die der Prätendent selbst auf die Wähler auszustrahlen vermag (beziehungsweise dem Mißtrauen, das man ihm als Person entgegenbringt), zweitens von der Glaubwürdigkeit, die man seinen — auf ganz aktuelle Fragen gerichteten — Vorschlägen für künftiges (innen- und außenpolitisches) Verhalten zumißt.

Aber während die erste Entscheidung („sympathisch“ oder nicht) natürlich immer eine recht individuelle ist, wird die zweite mehr als einmal aus einem gewissen Gruppenbewußtsein heraus gefällt. Nicht wenige dürften sich fragen: Ist der Kandidat vertrauenswürdig... vom Standpunkt der Arbeiter aus? Ist er dem deutschamerikanischen, italienischen oder jüdischen Volksteil gegenüber sympathisch eingestellt? Tritt er für die Rechte der oder jener sozialen oder anderen Gruppe ein? Oder aber ist er seinerseits einer speziellen Weltanschauung oder Interessengruppe so stark verbunden, daß ich ihm nicht vertrauen kann?

Die Diskussionen um den „Katholiken“ Kennedy schon vor der Nominierung als demokratischen Kandidaten zeigten, wie sehr — in diesem Fall in der Breitenwirkung offensichtlich überschätzt — der Gesichtspunkt der gruppenmäßigen Reaktion — sei es als erhofft oder befürchtet — bei parteitaktischen Entschlüssen mit einkalkuliert wurde.

Besondere Beachtung finden Überlegungen zum „Gruppen-Vote“ naturgemäß da, wo bestimmte „Gruppen“ in zahlenmäßiger Stärke räumlich beisammen leben. So haben beide Parteien nicht zufällig von Anfang an ein Hauptaugenmerk auf systematische Propaganda in New York gelegt: Hier stellen drei Gruppen, Katholiken, Juden und Neger, fast die Hälfte der Wahlfähigen. S i e anzusprechen ist von besonderer Bedeutung, da sich auch andernorts, zum Beispiel in Pennsylvania, Ohio, Illinois, Indiana, Maryland und Kalifornien, ähnliche Schichtungen abzeichnen, man also bis zu einem gewissen Grade in New York sie stellvertretend gewinnen kann.

Zum Unterschied von den Katholiken, die im Staat New York ursprünglich zu den standfestesten Anhängern der Demokratischen Partei gehört hatten, aber in den letzten Jahren, nachdem ein Großteil, besonders innerhalb der irischen Sektion, seinen sozialen Status verbessert hatte, zu Eisenhower und den Republikanern übergeschwenkt waren, haben in New York jüdische Stimmen, vor allem seit Roosevelts Präsidentschaft, in überwiegendem Maße den Demokraten gehört. In den meisten Großstädten haben überhaupt „Minderheiten“, deren Einwanderung noch nicht allzulange her war, bei den Demokraten Anlehnung gesucht, die als weniger „konservativ“ gelten, wenigstens im Norden des Landes.

Vor dem New Deal haben, wie auch in anderen Teilen des Landes, die Neger, eingedenk der republikanischen Tradition der Sklavenbefreiung, vorwiegend die Republikaner gewählt. Mit Roosevelt und Truman änderte sich das zunehmend, und sie gingen weitgehend auf die Gegenseite. Eisenhowers „fortschrittliche“ Politik in der Negerfrage brachte teilweise eine Rückwanderung zustande. Kennedy und Nixon versuchen jetzt, in diese Fluktuation eine neue Stetigkeit zu bringen, vor allem im katholischen und farbigen Sektor. Aber für keine Gruppe kann wirklich legitim irgend jemand eine bindende Erklärung abgeben.

Alle Statistiken, die Gruppenreaktionen zu etablieren scheinen, ergeben nur Tendenzen, sprechen von latenten Wahrscheinlichkeiten, deuten eine Richtung an. Das amerikanische Gruppenvotum als berechenbare Größe ist eine Legerkfere^ mitaoT „ dvrv tM b *si-

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Ob die offizielle Empfehlung des demokratischen Kandidaten durch die Leitung der Zentralgewerkschaften AFL-CIO für Kennedy die Mehrzahl der Arbeiterstimmen erbringen wird, ist im Grunde genau so fraglich wie die Voraussage, daß, wenn 14 Staaten, in denen Katholiken stark vertreten sind, sich für ihn entscheiden, mit der Zahl der damit erbrachten Wahlmänner seine Wahl gesichert ist. Daß bisher von weiblichen Wählerstimmen in Amerika so gut wie immer drei von fünf für republikanische Kandidaten abgegeben wurden, besagt noch lange nicht, daß nicht diesmal der jugendliche „Charm“ des oppositionellen Kandidaten das zu ändern vermag. Im katholischen Wählerreservoir ist keineswegs klar, daß man dort als Block für den Glaubensbruder stimmen wird: es gibt führende katholische Zeitschriften, die Kennedy stark attackieren! Im Lager der Neger ist die Ungewißheit bei der bevorstehenden Wahl größer als jemals: während die NAACP, der Wortführer der politisch wachen farbigen Elite, wenngleich etwas zögernd, sich zugunsten der demokratischen Plattform ausgesprochen hat, erheben sich in steigendem Maße Stimmen unter Negerführern, die Senator Johnson als untragbar für farbige Wähler erklären. Der gelegentlich militant zum Ausdruck gebrachte „Antikatholizis-mus“ fundamentalistischer protestantischer Gruppen mag sich oder mag sich nicht politisch auswirken und Nixon gegebenenfalls Auftrieb geben.

Theoretisch läge eigentlich hier fast die einzige echte Möglichkeit einer Gruppenmobilisierung vor. Gruppenemotionen sind als wirkliche Kraft ja eigentlich nur in der Abwehr, im Widerstand, in einem Appell, sich g e gen etwas zu wenden, fruchtbar zu machen. Darum aber handelt es sich bei dieser Wahl kaum: Beide Parteien suchen allen — existenten und fiktiven — Gruppen ja klarzumachen, daß sie nichts Besseres tun könnten, als ihren Kandidaten als Freund, als Repräsentanten zu akzeptieren. Religiöse, ethnische oder Berufsgruppen sind am ersten zu kollektivem Handeln zu bringen, wenn ihre Spezialanliegen gefährdet erscheinen, nicht, wenn man sich im Wettbewerb der Werbung als Sympathisant anpreist. So werden bei dem Wahlkampf, der jetzt beginnt, wieder einmal diejenigen Entscheidendes zu bestimmen haben, die weder parteigebunden noch durch Gruppenloyalität vorbestimmt reagieren, nämlich die Gruppe der „Gruppenfreien“, die „unabhängigen Wähler“, die Schicht, bei der sich mannigfache horizontale und vertikale Bindungen da ausbalancieren, wo die ganz persönliche, unberechenbare, mehr als einmal zufällige Entscheidung der letzten Stunde sich herauskristallisiert.

Das besagt weder, daß die Bemühungen um die „Wählerblöcke“ vernachlässigt werden, im Gegenteil, man wird sie verstärken. (In New York hat Bob Kennedy, der Bruder des Prätendenten, Portorikanern ganz simpel versprochen, daß dieser in Zukunft vor allem Botschafter lateinamerikanischer Herkunft in südamerikanische Länder senden würde!) Sie sind auch keineswegs sinnlos. Viele einzelne sind nun einmal vor allem durch das Medium der Gruppe ansprechbar.

Aber sie werden weniger denn je das Resultat des Wahlkampfes bestimmen. Werden es die einzelnen sein, die — abseits einer Gruppenloyalität — einen Mann des innerpolitischen Fortschritts erhoffen, die, die eine zielklare Außenpolitik wollen, die, die eine Wachablösung durch Jugend wollen?

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