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„Spätfeudale Edelfäule“

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Wilfried Daim, Initiator des Bundesheer-Volksbegehrens, legt in diesem Beitrag seine Gründe dar, warum er der Ansicht ist, daß gerade das österreichische Bundesheer als „schwächstes Glied des Establishments“ angegriffen werden muß. Daim stellte seine Thesen auf einer Tagung des „Internationalen Dialog-Komitees“ auf, dats sich mit der „Möglichkeit der Revolution in modernen Industriegesellschaften“ befaßte. Der (einvernehmlich gekürzte) Beitrag macht klar, worum es den Initiatoren der Abschaffung des Bundesheeres eigentlich geht. Unsere Redaktion, die bereits mehreren Stimmen zum Thema der Bundesheerreform Raum gegeben hat, hält es für notwendig, ihren Lesern auch diese höchst provokante Ansicht Daims zur Kenntnis zu bringen.

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Wilfried Daim, Initiator des Bundesheer-Volksbegehrens, legt in diesem Beitrag seine Gründe dar, warum er der Ansicht ist, daß gerade das österreichische Bundesheer als „schwächstes Glied des Establishments“ angegriffen werden muß. Daim stellte seine Thesen auf einer Tagung des „Internationalen Dialog-Komitees“ auf, dats sich mit der „Möglichkeit der Revolution in modernen Industriegesellschaften“ befaßte. Der (einvernehmlich gekürzte) Beitrag macht klar, worum es den Initiatoren der Abschaffung des Bundesheeres eigentlich geht. Unsere Redaktion, die bereits mehreren Stimmen zum Thema der Bundesheerreform Raum gegeben hat, hält es für notwendig, ihren Lesern auch diese höchst provokante Ansicht Daims zur Kenntnis zu bringen.

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„Wollen wir die Frage nach den Möglichkeiten von Revolutionen in modernen Industriegesellschaften untersuchen, sind zunächst die Begriffe abzuklären, die in der Problemstellung verwendet werden.

Zunächst zum Revolutionsbegriff. Die Verfasser (auf die hinzuweisen eine Frage geistiger Redlichkeit ist) der dann nach Überarbeitung durch Paul VI. unter dessen Namen erschienenen Enzyklika .Populorum progressio haben den Revolutionsbegriff sehr eng gefaßt. Sie stimmen jedoch mit Affektinhalten breiter konservativer Kreise überein — und damit mit dem umgangssprachlichen Verständnis, wenn sie unter .Revolution' einen gewaltsamen Umsturz der sozialen Ordnung — bei dem viel Blut fließt — verstehen.

Es wäre nun durchaus legitim, von einer solchen Position her die Möglichkeiten einer Revolution in modernen Industriegeselischaften zu untersuchen. Ich möchte mich jedoch durchaus mit einem erheblich weiteren Revolutionsbegriff identifizieren, von dem aus die Frage der Gewalt in den Diskussionsraum der Methoden verwiesen wird, obwohl die Relation von Ziel und Methode auch kein leichtes Problem ist.

Revolution wäre eine grundlegende Umgestaltung der Gesellschaft, was wiederum heißt, daß diese ihre Wertpräferenzen und damit das kollektive Überich ebenso verändert, wie die Produktionsverhältnisse und die Verwendung der Produktivkräfte, die Herrschaftsstruktur und die Herrschaftstechnik. Will man jedoch hiebei einen Unterschied zwischen Revolution und Konterrevolution machen, muß eine Revolution insofern einen Fortschritt darstellen, als sie einen Wertzuwachs der Unteren gegenüber den jeweils Oberen in der Gesellschaft bringen muß.

Unsere Fragestellung schließt die Möglichkeiten zu Revolutionen in kapitalistischen wie auch in sozialistischen Staaten ein. Nun haben Industriegesellschaften in ,Ost' und ,West', um diese journalistischen Ausdrücke zu gebrauchen, sicherlich vieles gemeinsam. Die wissenschaftlich technische Produktionsweise, und insofern könnte man' auf einer hohen Abstraktionsstufe auch beide gemeinsam betrachten und die Frage nach der Revolution stellen. Die synchron in beiden Systemen sich ereignenden Studentenunruhen legen auch gemeinsame Ursachen nahe. Doch wird die Antwort auf die Frage nach der Revolution auf dieser Abstraktionsebene vielleicht relativ unergiebig sein.

Immerhin: Wenn unsere Industriegesellschaft bislang der Selbsifin-dung und Selbstbestimmung des Menschen, damit der schöpferischen Entfaltung aller Menschen, nicht genügte und wir alle — die .östlichen' wie .westlichen' — Industriegesellschaften zunächst gleichzeitig ansehen, dann ist es das Festhalten an Herrschaftsstrukturen, die die Interessen Weniger gegenüber der Gesellschaft vertreten. Die repressiven Apparate sind in ,Ost' und ,West' gegeben, wobei sie im Westen meist verschleierter operieren. Da die Repressionsapparate verschieden sind, werden die Methoden ihrer Zersetzung daher auch verschieden sein müssen. In beiden Fällen wird die revolutionäre Zersetzung jedoch von einer analogen Gruppe ausgehen: Da die Einengung der humanen Selbstrealisierungen in den geistigen Bereichen am ehesten bewußt wird, werden es — und die Erfahrung bestätigt es —

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vor allem Intellektuelle sein, von denen revolutionäre Impulse ausgehen. Wenn sie nun an die Möglichkeit revolutionärer Umgestaltung der Gesellschaft glauben — und der Glaube an den Fortschritt legt ihnen die auf, dann müssen sie eben nach Wegen suchen, sie zu erreichen. Dies bedeutet, Strategie und Taktik zu entwickeln. Tatsächlich scheint dies nun der Kern aller revolutionären Fragestellung in der Gegenwart zu sein.

Nun weist jede spezifische Industrie-geseMschaft Differenzen zu anderen Gesellschaften auf. Aber die politischen Bedingungen und Verfassungen der sozialistischen' Länder stellen doch — bei allen Unterschieden, die sie untereinander aufweisen — einen Typus dar, der auch die Antwort über die Wünschbarkeit und Möglichkeiten der Revolution beeinflussen wird.

Tatsächlich gibt es in den sozialistischen Ländern zumindest offiziell andere Wertsysteme und Wertpräferenzen. Wer allerdings die Situation in verschiedenen dieser Länder kennt, weiß, daß das offizielle, die Massenmedien beherrschende Wertsystem mit einem dem sogenannten .Westen' durchaus analogen Wertsystem unterlagert wird. Allerdings wäre es falsch, zu meinen, daß das sozialistische' Wertsystem keinen Einfluß hat.

Das bedeutet, daß die Frage nach der Revolution im sozialistischen System typisch anders zu stellen ist als im kapitalistischen. Analog wäre höchstens noch die Frage der Revolution in feudalen Systemen, wie etwa Saudi-Arabien, typisch anders zu stellen.

Man muß sich bewußt machen, daß jede Antwort auf unsere Fragestellung hypothetisch sein muß. Denn eine mathematisch exakte Antwort auf unsere Fragestellung ist auf Grund der Komplexität der soziologischen Prozesse wohl unmöglich. Es gibt zwar Argumente für und wider, doch sind sie nicht zwingend. Insofern spielt natürlich das, was einmal Temperament genannt wurde, bei der Beurteilung der Situation eine besonders wichtige Rolle. Die affektive wie moralische Einstellung zu dieser Frage ist ganz entscheidend. Wenn man erkennt, daß eine Gesellschaft, so wie sie ist, für die Entfaltung der produktiven Möglichkeiten des Menschen nicht genügt, so ist die Frage, ob man diese Gesellschaft ändern kann oder nicht, auch nicht eine bloß rationalen Kalküls. Sie ist vielmehr auch eine der moralischen und humanen Position. So wird jemand, der an die moralische Entwicklung der Menschheit glaubt, die Situation anders einschätzen als jemand, der die Menschheit in ihren eigenen Verstrickungen zum Tod verurteilt sieht.

Nun möchte ich meine Ideen zu dieser Frage am österreichischen Modell demonstrieren, das natürlich seine Spezifitäten hat. Zunächst ist eine Diagnose über die gegebene Gesellschaft notwendig. Man muß sich eine Art von Lageplan schaffen.

Nun ist die österreichische Gesellschaft von spätfeudalen k. u. k. wie kleinbürgerlichen Struktur- und Denkmodellen bestimmt, mit Wertpräferenzen, die jedoch neben der spätmonarchistischen auch noch sekundärfeudal-faschistische sind. Opernball und Heuriger (spätfeudale Edelfäule und kleinbürgerliche Weinfreuden) sind in hierarchische Strukturen eingebettet. Jeder österreichische Präsident demonstriert noch Franz Josef I.-Attitüden. Die Politiker sind eingewickelt in Bauch- und Brustschärpen und behangen mit obskuren Orden. Die .Hofräte' bevölkern die demokratischen' Ministerien und ein Industrieller ist kein Manager, sondern wenigstens ein .Kommerzialrat', wenn schon kein ,Konsul'. Alle Beamten genießen, wie ehedem der Adel, einen höheren ,Ehrenschutz', gibt es doch eine sogenannte ,Amts-ehrenbeleidigung'.

Man hält die Antike für .human', was zum Mißverständnis des humanistischen Gymnasiums Anlaß gibt. Man hat ein Geschichtsbild, in dem die Französische Revolution der reine TeufeJ, ist und hält Raunzereien schon für eine Heldentat. Nonkonformisten können hier nichts werden, man hält es sich schon zugute, wenn man sie leben läßt. Die Bourgeoisie leckte am liebsten noch den Feudalen die Stiefel, was man etwa sublimiert am klassischen Blatt der österreichischen Bourgeoisie, der .Presse', studieren kann. Diese ganze Zeitung ist ein .cultural lag'.

Aber dem Extremfall von .cultural lag' begegnen wir in Österreich wohl im Bundesheer. Mentalitätsmäßig wurzelt es zu einem kleineren — und besseren — Teil in der k. u. k. Monarchie, zum größeren in Hitlers Wehrmacht. Hierarchische, antidemokratische Züge dominieren in weiten Bereichen. Ein Herrenmenschliches, teils spät-(monarchi-stisch) teils sekundärfeudalen (NS)-Anspruches stößt dabei auf die beengenden Schranken der strategischen und ökonomischen Verhältnisse. Dazu kommt ein Staatsvertrag, der dem Land geradezu alle modernen Waffen verbietet und es — so er nicht gebrochen wird — jedes österreichische Heer zur Infantilität verdammt. Den Staatsvertrag bricht man nur zögernd (so befinden sich in hohen Stellungen hohe Offiziere der ehemals deutschen Wehrmacht und man hat einige belanglose Raketenwaffen).

Da somit Österreich selbst die Raketenwaffen der Hitlerwehrmacht verboten sind, ist die Situation dieser Armee hoffnungslos, so sehr, daß dies selbst alte NS-Offiziere einsehen.

In unserem österreichischen Fall ist daher die Armee das Schwächste Glied des Establishments. Und einer der wichtigsten Punkte, die eine gesellschaftliche Analyse herauszuarbeiten hat, ist die nach dem schwächsten Punkt des jeweiligen Establishments. Es möge mir erlaubt sein, abzuschweifen: In den sozialistischen Staaten zeigt sich, daß das schwächste Glied des dortigen Establishments der Kunst- und Wissenschaftsbetrieb ist. Nicht zufällig sind es die Schriftsteller und zum Teil Wissenschaftler, die die Repressionsmechanismen der Regime am drük-kendsten empfinden, am meisten frustriert werden und auch am geschicktesten zu manövrieren verstehen.

Hier ist auch die Repression am unlogischesten und am schwersten zu kontrollieren. Die Widersprüche sind zu offenkundig zwischen dem .wissenschaftlichen' Anspruch der Ideologie und dem Repressionsversuch der Kanalisierung wissenschaftlicher Ergebnisse.

Wollte man sich somit die Frage stellen, wo das schwächste Glied in den sozialistischen Gesellschaften zu finden ist, müßte man hier suchen. Unser österreichisches Beispiel bleibt also ein Beispiel. Aber noch ein weiterer Punkt gehört zu unserer Strategie. Da jene Menschen — es handelt sich naturgemäß vor allem um Intellektuelle —, die die Fähigkeit haben, die raffinierten Repressionsund Steuerungsmethoden zu durchschauen und dem Apparat zu widerstehen, naturgemäß eine recht kleine Minorität sind, muß mit ihren Kräften sparsam umgegangen werden. Strategisch muß sich der Hauptangriff einer kleinen Gruppe schwerpunktmäßig auf einen Punkt richten, bei dem sich die Antirationalität und

Antihumanität am direktesten offenbart.

Denn hier ist es am leichtesten möglich, gegen die Manipulationsmaschinerie der Herrschenden anzukommen, weil die Propaganda hier die geringste Zahl an rationalen Elementen verfügt. Wenn etwa die Autofirmen mit maximalem Propagandaaufwand den Menschen einzureden versuchten, daß sie kein Auto, sondern einen Autobus für sich und ihre Familie benötigen würden, brauchte es nur einen geringen Aufwand, um den Werbeerfolg zu zerstören.

Im Falle unseres Beispiels ist es relativ leicht, die Irrationalität des ganzen Müitärbetriebes darzustellen. Obwohl man hier einer Propagandamaschinerie, die viele Millionen verschlingt, mit ganz geringen Mitteln gegenübersteht, einzig bewaffnet mit der Rationalität seiner Argumente, kann man hier doch etwas erreichen.

Weiters gelingt es hier auf einem speziellen Feld ungleich leichter, Verbündete zu finden. Nicht nur in den Gewerkschaften, sondern auch im Industriellenverband, ja unter früheren Offizieren gibt es Leute, die die Unsinnigkeit dieser Spielerei einsehen und denen es leid um die vergeudete Arbeitskraft und das vergeudete Geld ist. Und hier läßt sich Bewußtsein bilden, lassen sich Bündnisse schließen, aber man kann von hier aus auch in andere gesellschaftliche Bereiche vorstoßen. So griffen wir die Militärgeistlichen, die in der Militärhierarchie ein christlich so fragwürdiges Dasein führen, an, was schon dazu führte, daß Kardinal König als Militärbischof zurücktrat und der neue Militärbischof die (Offiziers-) Rangabzeichen (herrschende Klasse!) in Frage stellte und im Anschluß an Paul VI. den Alternativdienst für sehr sinnvoll erklärte.

Die kirchliche Hierarchie — die sich ja vielfach an der römisch-militärischen orientierte — könnte von hier aus auch gelockert werden. Weiters können Studenten von Lehrlingen und Arbeitern schwer erwarten, daß sie sich für die Hoch-schuldemokratie ereifern. Aber in der Frage des Militärs gibt es Interessen der Arbeiter, aber auch der Mütter. Man sieht, von diesen kollektivneurotischen Symptomen aus kann man zum Kern der gesellschaftlichen Fixationen vorstoßen. Unser Operationsschema läßt sich somit an Hand unseres Beispiels, von ihm substrahierend und verallgemeinernd formulieren:

1. Diagnose, Analyse der gegebenen Gesellschaft;

2. Herausarbeitung des schwächsten Punktes der Gesellschaft;

3. Bildung einer revolutionären Gruppe;

4. Angriff auf diesen Punkt, Konzentration der Kräfte auf diesen Punkt;

5. Bewußtseinsbildung an diesem Extremmodell;

6. Bildung von Bündnissen im Kampf um die Durchsetzung der Rationalität am Extremmodell;

7. Eröffnung von Nebenfronten vom Extremmodell aus. Ausstrahlung auf andere Gebiete, auf die die Auseinandersetzung getragen werden soll, wenn ein Durchlbruch am Extremmodell gelingt. Damit verbunden, sollte der Bewußtseinsraum erweitert werden.

Ein Prinzip müßte sein, daß solche Operationen begonnen werden müßten, bei denen bereits Teilerfolge zur Humanisierung der Gesellschaft beitragen. Auch wenn es nicht sofort gelingt, den ganzen Militärapparat abzuschaffen, so wäre es doch bereits ein Erfolg^ für die Gewissensbildung und damit für die Humanisierung der Gesellschaft, wenn ein Alternativdienst eingeführt würde. An der leichtesten Front erprobt, käme es so immer mehr zu einer Schulung der Kader, zu Bündnis-und Einflußverflechtungen und letztlich zu großen Einbrüchen ins Establishment. Wir wissen nicht, bis wohin uns letztlich eine solche Dynamik tragen wird. Aber selbst ein Teilerfolg ist schon der Mühe wert.“

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