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Zivilisation oder Barbarei

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Die kulturübergreifende Ablehnung von Mord, Folter, Unterdrückung und Betrug muß das Minimum an Gemeinsamkeit sein ...

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Die kulturübergreifende Ablehnung von Mord, Folter, Unterdrückung und Betrug muß das Minimum an Gemeinsamkeit sein ...

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Samuel Huntington liefert ein mit großem Aufwand an Fakten, Kombinationen und Spekulationen angereichertes Kolossalgemälde. Um seine These plausibel zu machen, verwendet er mehrere Strategien:

n Zum einen versucht er seine Thesen mit harten Daten zu belegen, mit Zahlen, Tabellen und Graphiken; beispielsweise über die Dynamik der Verbreitung von Sprachen über die territoriale Ausdehnung von Herrschafts- und Einflußsphären, über die Bevölkerungsentwicklung und über den Anteil der Jugendlichen in verschiedenen Kulturkreisen, über die Veränderung wirtschaftlicher oder militärischer Kräfteverhältnisse.

■ Außerdem geht er darauf aus, seine Beobachtungen dadurch als begründet und zutreffend zu erweisen, daß er glaubhafte Ursachen für die jeweiligen Vorgänge namhaft macht. Um das an einem Beispiel zu erläutern: die aus der statistisch aufgewiesenen Konflikthäufigkeit erkennbare Mili-tanz muslimischer Völker und Gruppen beruht, wie Huntington meint, zunächst auf dem Absolutheitsan-spruch ihrer Religion (es gibt keinen Gott außer Allah, und der Koran ist Gottes Wort) sowie und auf ihrem missionarischen Charakter; allerdings betont er da Ähnlichkeiten mit dem Christentum (S. 337) und meint, daß mächtige Zivilisationen (deren „Seele“ ja in seiner Sicht eine große Religion ist) in aller Regel einen Universalanspruch erheben. Der Islam sei aber von Anfang an reine „Religion des Schwertes“ gewesen, und seine Expansion habe zu traumatisch folgenreichen Feindschafts- und Unterdrückungsverhältnissen geführt. Später habe die Schwächung des osmanischen Reiches andere Mächte dazu verführt, islamische Völker und Volksgruppen zu Opfern von Aggression und Fremdherrschaft zu machen, was wieder den Willen zur Selbstbehauptung aufstacheln konnte. Heute ist sie die wichtigste Ursache islamischer Militanz die „Be-völkerungsexplosion in muslimischen Gesellschaften“, in denen junge Männer massenhaft ohne befriedigende Erwerbsbeschäftigung ein Potential der Unruhe darstellen (S. 430), denn: „Junge Menschen sind die Protagonisten von Protest, Instabilität, Reform und Revolution“ (S. 182). .

■ Ein weiteres Verfahren Huntingtons ist die Vorstellung von beispielhaften „Fallstudien“, insbesondere zur Untermauerung seiner These von der Gefährlichkeit interkultureller Kriege, insbesondere an „Nahtstellen“ zwischen den Zivilisationskreisen. Gerade diese Abschnitte liest man mit Spannung. Das gilt für die Darstellung des zehn Jahre dauernden Krieges in Afghanistan (S. 400ff), des Zweiten Golfkriegs sowie der politischen Folgen der von den USA dirigierten westlichen Intervention in den ursprünglich innerislamischen Konflikt (403ff.).

Gleiches gilt für die blutigen Auseinandersetzungen in Verbindung mit dem Zerfall Jugoslawiens - beginnend“ mit den Auseinandersetzungen um den Status des zunächst autonomen Kosovo (S. 425ff), über die Kämpfe zwischen serbischen und kroatischen Kräften (S. 460ff.) bis hin zum grausamen, unter mehr oder minder indirekter Mitwirkung auch außenstehender Mächte geführten Krieg in Bosnien-Herzegowina und zu seiner vorläufigen Pazifizierung durch die Vereinbarungen von Dayton (unter anderem 427f., 438ff, S. 468ff.).

Nicht weniger dramatisch ist die Schilderung der gewaltsamen Auseinandersetzungen im Süden der von Bußland dominierten orthodoxen Zivilisation, nämlich des Krieges in Tadschikistan (S. 450ff.), des russischen Feldzuges gegen die Unabhängigkeitsbestrebungen Tschetscheniens samt der ossetisch-inguschischen Vorgeschichte (S. 452ff.) sowie des Konflikts um die von christlichen Armeniern besiedelte Begion Berg-Ka-rabach inmitten des muslimischen Staates Aserbaidschan (S. 455ff.).

Nicht wenige Leser werden meinen, nun hätten sie die komplizierten Konstellationen durchschaut, deren Verständnis Jiötig ist (oder gewesen wäre), wenn man mit den Tagesmeldungen der Zeitung etwas anfangen wollte. Allerdings: man sollte gerade diese Fallstudien mit ein wenig Vorsicht genießen. Zwar klingen manche Hinweise auf Anhieb einleuchtend, sie vermitteln das Gefühl eines „ Aha-Erlebnisses“ - so etwa, wenn Huntington die Spannungen in der Kosovo-Provinz und anderen daraus ableitet, daß 1961 dort die muslimischen Albaner 67 Prozent der Bevölkerung ausmachte, 1991 aber 90 Prozent, wohingegen der Anteil der orthodoxen Serben von 24 auf zehn Prozent zurückgegangen war (S. 425). Ähnlich aufschlußreich wirkt die Veränderung des demographischen Kräfteverhältnisses in Bosnien-Herzegowina im gleichen Zeitraum (S. 427).

Aber die Schilderung der Entwicklungen ist, im Kontext mehrerer der Fallstudien, einigermaßen selektiv und zuweilen etwas ungewöhnlich akzentuiert. Dafür nur einige Beispiele: Die deutsche Anerkennung der Unabhängigkeit Sloweniens und Kroatiens wird der „katholischen Schiene“ zugeschrieben und da auch gleich die Frankfurter Allgemeine Zeitung miterwähnt (S. 461). Demonstrative muslimische Bücken-stärkungs-Besuche in Sarajewo werden erwähnt, westliche (wie der von Präsident Mitterrand) nicht.

Auch die Schilderung der Bemühungen der Staatengemeinschaft zum Berg-Karabach-Konflikt ist etwas stark vereinfacht. In der Ablaufsbeschreibung des Bosnienkonflikts fehlen schlichtweg entscheidende Ereignisse (der Entschluß zu massiver Gewaltanwendung im Sommer 1995 und die Folgen) - an einer Schlüsselstelle über die Politik der USA (S. 475) folgt auf Entscheidungen im Frühjahr unmittelbar die Vereinbarung von Dayton -, so daß es so aussieht, als ob die Bückeroberung der Krajina durch die Kroaten schlichtweg dadurch möglich geworden wäre, daß Milosevic dazu die Erlaubnis gab (S. 489)!

Die Fallstudien stehen also ein wenig zu sehr in der Perspektive von Huntingtons „Vorverständnis“; was dazu paßt, wird markant präsentiert, anderes wird vernachlässigt.

■ Die These vom möglichen interkulturellen Dritten Weltkrieg entzieht sich natürlich der Widerlegung und, hoffentlich, der Bestätigung. Huntington befürchtet, daß die amerikanische Politik der Gefahr seines Ausbruchs womöglich nicht hinreichend Rechnung trägt. Um seiner Sorge mehr Gewicht zu geben, greift er zu einem kühnen Verfahren: Er entwirft das Szenario eines sich im Jahre 2010 anspinnenden ostasiatischen Krieges, in den die USA im Zuge eines Eskalationsprozesses trotz starken Zögerns hineingeraten, und schließlich kommt es zum „globalen Kampf“ des Westens, Rußlands und Indiens gegen China, Japan und deren islamische Verbündeten, mit verheerenden Auswirkungen (S.515).

Huntington selbst betont, sein Zukunftsdrama mute phantastisch an, aber die entscheidende Weichenstellung wäre im Ernstfall, wie immer er zustandekäme, die Intervention einer „kulturfremden“ Großmacht in einen anderwärts stattfindenden Konflikt, im Namen des Völkerrechts, zur Bestrafung eines Aggressors oder zur Verhinderung einer für viele andere unzumutbaren Übermachtposition.

Die Botschaft, die er mit allen diesen Bildern vermitteln will, ist klar: In der Welt von morgen müssen, um der Zukunft der Menschheit willen, ganz unterschiedliche Weltanschauungen, Kulturkonzepte und Moralen nicht nur grundsätzlich akzeptiert werden. Der Westen muß lernen, daß er seinen Ideen (zum Beispiel seinen Vorstellungen von Menschenwürde und Freiheit, von Grundfreiheiten und Toleranzgeboten, von Pluralismus und Demokratie) zwar treubleiben sollte, aber sich von der Meinung lösen muß, sie sollten auch den Menschen anderer Kulturen zugute kommen, und man dürfte dazu Macht einsetzen (gar wirtschaftliche oder militärische). Zur Wahrung der eigenen Position im neuen, gefährlichen „Spiel der Mächte“ ist die Aufrechterhaltung der militärischen und technologischen Überlegenheit ebenso unerläßlich wie eine weitergehende Integration unseres Kulturkreises. Aber der westliche Anspruch, der restlichen Welt den Weg in eine bessere Zukunft weisen zu können, ist verfehlt (weil er nicht akzeptiert wird). Er ist außerdem unmoralisch (weil er gegen den Willen der anderen nur mit Zwangsgewalt oder Mithilfe von Manipulation realisiert werden könnte), und er ist gefährlich (weil Versuche zu seiner Durchsetzung den Dritten Weltkrieg auslösen könnten, der zur Niederlage des Westens zu führen vermöchte).

Die Treue des Westens zu sich selbst erfordert freilich vor allem, daß der moralische und kulturelle Verfall in Amerika und Europa gestoppt wird; dazu zählt Huntington die Zunahme „asozialen Verhaltens“ und der Gewaltbereitschaft, den Verfall der Familie (Zunahme der Scheidungsrate, der unehelichen Geburten, der Alleinerziehenden), das Schwinden der Solidaritäts- und Selbstverantwortungsbereitschaft in der Gesellschaft, die Schwächung der Leistungsbereitschaft und der Fähigkeit zur Askese (siehe S. 500; wie es den westlichen Gesellschaften gelingen soll, „mit diesen Tendenzen fertig zu werden“, erläutert er freilich nicht).

Ganz verhängnisvoll ist in seinen Augen der Verlust religiöser Einstellungen und die Ermutigung multi-kultureller Verschiedenheit innerhalb der eigenen Gesellschaft, denn das wäre die Aufgabe der geistigen Identität und damit die innere Kapitulation.

Alle politisch Hauptverantwortlichen - also die Führungen der „Kernstaaten“ - müssen einsehen, daß nur ihre gemeinsame Bemühung das verhängnisvolle Aufschaukeln interkultureller Konflikte verhindern kann, sie müssen lernen, ihre Übermacht aus wohlverstandenem Eigeninteresse zur Eindämmung und Abdämpfung solcher Konflikte zu nutzen.

Jedes gemeinsame Handeln bedarf aber eines Minimums an Vertrauen und an Bereitschaft, Einverständnis anzustreben. Dies erfordert die bewußte Wahrnehmung und, nach Möglichkeit, Aufwertung geistiger und handlungsanleitender Gemeinsamkeiten, etwas der kulturenübergreifenden Ablehnung von Mord und Betrug, Unterdrückung und Folter. Mit anderen Worten: die Bemühung um das für die interreligiösen Beziehungen von Hans Küng postulierte „Projekt Weltethos“ verdient Priorität und muß über den Bereich der Religionen hinaus vorangetrieben werden. Wenn die Kulturen der Welt nicht ihre Gemeinsamkeiten wahrnehmen, werden sie nicht gemeinsam gegen die Wiederkehr der Barbarei und des Chaos aktiv werden können -der „Kampf zwischen Zivilisation und Barbarei“ könnte aber noch dringlicher werden als der „Kampf der Kulturen“.

Dies alles schließt aber die gegenseitige Respektierung von Herrschafts- und Einflußzonen im Bereich der jeweiligen Zivilisationskreise nicht aus. (Der Westen muß also die Dominanz Bußlands im orthodoxen Kulturraum und die Dominanz Chinas im konfuzianischen Kulturraum anerkennen - umgekehrt wäre es konsequent, wenn die Europäische Union und die NATO sich um jene „lateinisch“ geprägten Länder Europas erweitern würde, die noch nicht Mitglieder sind, während andererseits orthodoxe oder muslimische Länder wie Griechenland oder die Türkei weder in die NATO noch in die EU gehören ...)

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