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Amerikas „fähigster Demagoge“

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Seit Peisistratos wirft sich eine demokratische Gesellschaft, die mit ihren Problemen nicht fertig wird, gerne einem Demagogen in die Arme, der sich dann zum Tyrannen aufschwingt. Im alten Griechenland waren die Demagogen von aristokratischer Herkunft und versetzten ihre eigene Klasse in Schrecken. In Amerika kommen sie aus dem Volk, streben aber nach dem Dank der Aristokraten. Sie können nur auf diese Weise hochkommen, da, wie Gunnar Myrdahl soeben erst wieder bestätigt hat, das amerikanische Proletariat das fügsamste der Welt ist

Der Vietnamkrieg hindert die amerikanische Gesellschaft daran, die in ihr bestehenden Zentrifugalkräfte ethnischer und sozialer Art einzudämmen. Dies äußert sich in der zunehmenden, an Hysterie grenzenden Angst der Mittelklasse, vor allem davor, daß die Grundlage ihrer satten Zufriedenheit zerstört werden könnte. Man sehnt sich nach einem Mann von altem Schrot und Korn, der sie schützt.

Gerade der Krieg fördert faschistische Vorstellungen. Dazu gehört, daß der Präsident immer unduldsamer gegenüber den Kriegsgegnern wird, wenn er auch noch nicht so weit geht wie Amerikas „fähigster Demagoge“, George Wallace. Dieser kündigt „Professoren“, die mit der National-Liberation-Front sympathisieren, an, er würde sie „an ihren Barten ins Zuchthaus zerren“. Anderseits hat General Hershey, der Chef

des Aushebungsdienstes, die örtlichen Dienststellen angewiesen, Studenten, die gewaltsam gegen den Krieg oder gegen Firmen, die an ihm verdienen, demonstrieren, sofort einzuziehen. Diese Anordnung ist ungesetzlich. Trotzdem hat Präsident Johnson den General nicht desavouiert. Jedoch war die Kritik an diesem Mißbrauch der Macht stark. Dies berechtigt dazu, den Faschismus noch nicht in voller Fahrt zu sehen, obwohl er, wohlgemerkt: In hundertprozentiger amerikanischer Eigenart, frei von europäischem Beiwerk, in George Wallace einen Schrittmacher hat.

Der Januskopf

Der Ehrgeiz dieses früheren Gouverneurs von Alabama ist ebenso groß wie seine Statur klein, und seine Energie steht seinem Ehrgeiz nicht nach. Mr. Wallace gibt sich ungebildet und mag es auch sein. Man muß ihm jedoch zugute halten, daß er, offensichtlich hochintelligent, dem Mißtrauen der Wähler von Alabama, die ihm vorläufig durch dick und dünn folgen, keinen Auftrieb geben darf. Selbst er kann ihnen nicht sowohl Bildung als auch Intelligenz zumuten. Aus demselben Grund verbirgt er seine guten Instinkte, von denen er unzweifelhaft einige hat. Es kennzeichnet die intellektuelle Atmosphäre seines Staates, daß die Legislatur gegen nur drei Stimmen beschlossen hat, den Staat aus der UNO herauszunehmen.

Negerfeindlich aus Karrieregründen

Bei seiner ersten Kandidatur für das Gouverneursamt stellte er sich nicht als fanatischer Anhänger der Rassentrennung hin — und verlor haushoch. Erst vor wenigen Wochen ruinierte ein Republikaner, der Gouverneur von Mississippi, das in jeder Beziehung an Alabama angrenzt, werden wollte, seine Partei, als er Achtung für die Rechte der Neger verlangt hatte. Nach seiner eigenen Niederlage erklärte Mister Wallace, er werde sich von niemandem mehr an Begeisterung für die Rassentrennung übertreffen lassen. Daraufhin wurde er zweimal Gouverneur!

Es ist durchaus möglich, daß er die Negerfeindlichkeit aufgibt, sobald seine Karriere dies verträgt. Er vermeidet es sogar, wenn er im Norden unter den Anhängern des „White Backlash“ (diejenigen, die es den Negern heimzahlen möchten, daß sie Erfolge gehabt haben), um Stimmen wirbt, ihre Negerfeindlichkeit aufputschen.

Schon vor vier Jahren griff er nach der Präsidentenschaft, zog sich aber nach der Nominierung Goldtüaters zurück, angeblich, weil er diesem keine Stimmen abspenstig machen wollte. Jetzt schielt er wieder auf das Weiße Haus und kündigt an, er werde für niemanden zurücktreten.

Eure Respektabilität...

In diesen vier Jahren ist Wallace „respektabel“ geworden. In San Franzisko bereiten ihm die führenden Geschäftsleute einen warmen

Empfang, in Portland feiert ihn der Rotary-Club, in Ohio bejubelten ihn die Honoratioren.

Er ist nicht etwa respektabel geworden, weil er seine Ansichten geändert hätte, sondern, weil die Mittelklasse ihnen entgegenkommt. Mit seinen Angriffen auf die „Pseudointellektuellen im Obersten Gerichtshof“ spricht er ihr latentes Mißtrauen gegen die Intelligenz an; mit seiner Forderung, den Einzelstaaten die Freiheit znr rassischen Diskriminierung zu belassen, spricht er denjenigen aus der Seele, die mit ihrer Flucht in die Vororte den Negern den Stadtkern überlassen haben; mit seiner Verdammung der Kriegsgegner begeistert er die „Patrioten“, die blinden Glauben daran, daß Amerikaner weder schlecht noch dumm handeln können, für wichtiger als Denken ansehen. Dabei ist Mr. Wallace selbst kein gedankenloser Kriegstreuer. Er hat gesagt: „Falls ich Präsident werde, würde ich sehr lange nachdenken, bevor ich das Land in einen Krieg mit Asien verwickle.“

Wie sehr er die öffentliche Meinung für sich hat, zeigte sich an dem Widerstand des Kongresses gegen Präsident Johnsons Forderung nach größeren Mitteln zur Bekämpfung der Armut Beinahe wäre das Programm überhaupt abgewürgt worden.

Es ist bezeichnend, daß der Kongreß, der immer wieder die Armen für ihren angeblichen Mangel an Willen zur Selbsthilfe tadelt, den Teil des Programmes vernachlässigt,

der auf Selbsthilfe abgestellt war. Es war vorgesehen, farbigen Geschäftsleuten Geld zu borgen, damit sie die weißen Geschäftsleute in den Gettos auskaufen könnten.

Es ist fraglich, ob Mr. Wallace diese Feindschaft gegen die Armen im tiefsten Herzenswinkel teilt. Er hat nämlich einen populistischen Einschlag. Die Populisten, die um die Jahrhundertwende bis zum New Deal eine große Rolle spielten, bekämpften das Großkapital.

Schlechte Aussichten

Zur Zeit sind seine Aussichten auf das Weiße Haus schlecht. Einerseits, weil die Verfassung dritten Parteien fast unüberwindbare Hürden in den Weg legt, anderseits, weil seine Anhänger besser wissen, wogegen, als wofür sie sind. Zum Beispiel benötigt er in Kalifornien bis zum 2. Jänner 66.000 Wähler, die sich in seine Partei — die „Unabhängige Amerikanische“ — einschreiben müßten. In den ersten zwei Wochen waren es 20.000. Seitdem ist die Begeisterung abgeflaut, und der frühere Gouverneur kehrt nach Kalifornien zurück, um sie wieder anzufachen.

In wieviel Staaten er schließlich auf der Wahlliste stehen mag, in diesem Augenblick gibt es keine Anzeichen dafür, daß er eine Mehrheit aller Staaten gewinnen wird. Falls sich jedoch Mr. Johnsons Popularität die gegenwärtig auf 28 Prozent abgesunken ist, vor den Wahlen nicht erholt und die Republikaner den farblosen Richard Nixon aufstellen, könnte Wallace genügend Stimmen erhalten, um die Mehrheit eines Kandidaten zu verhindern. Wahrscheinlich ist es nicht, aber nicht ganz unmöglich.

Wahrscheinlich wird Wallace den Republikanern mehr als den Demokraten schaden. Die ersteren bezeichnen ihn denn auch als Lyndon Johnsons Geheimwaffe. Angesichts des undurchsichtigen Charakters Mr. Wallaces wäre dies nicht einmal unmöglich.

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