Flächendeckende Landvermessung

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Zur Geschichte der politischen Öffentlichkeit in der Habsburgermonarchie 1848-1918.

Hugo von Hofmannsthal, umjubelter und umstrittener Mittelpunkt der Wiener Gesellschaft im Fin de Siècle, notierte in seinem Buch der Freunde: "Politik ist Magie. Welcher die Mächte aufzurufen weiß, dem gehorchen sie." Diese knappe Bemerkung dürfte sich weniger auf die distinguierten Formen der liberalen Honoratiorendemokratie bezogen haben als auf die diversen Phänomene der frühen Massendemokratie und ihre virtuose Indienstnahme durch Machtpolitiker der ersten Generation wie Karl Lueger und Georg von Schönerer.

Zu diesem Zeitpunkt hatten sich in allen Königreichen und Ländern der Donaumonarchie die Konturen einer Zivilgesellschaft herausgebildet, die durch ein dichtes Netz von Vereinen und Interessenverbänden sowie eine zusehends breitere Bevölkerungsschichten erreichende, periodische Presse gekennzeichnet waren. An diesen von der historischen Forschung bislang stiefmütterlich behandelten eineiigen Zwillingen der politischen Partizipation und Mobilisierung leistet nun eine im "Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften" erschienene Doppelpublikation in beeindruckend umfassender Weise "Wiedergutmachung".

Tauwetter …

Die Herausbildung politischer Öffentlichkeit wurde zunächst durch eine restriktive Vereins-bzw. Pressegesetzgebung im Zaum gehalten. Das Tauwetter des März 1848 hielt nicht lange, die Euphorie und das "Rauschen im Blätterwald" legten sich bald wieder. Dennoch lassen sich gerade an den ephemeren Gründungen jener Monate Ansätze der Entwicklungen und diskursiven Felder erkennen, die die Szenerie bis zum Ausgang der Monarchie bestimmen sollten. So erschien zwischen Mai 1848 und August 1849 in Lemberg eine Wochenschrift unter dem schlichten Titel Zeitung. Dieses Blatt wurde von einem einzigen Mann, Abraham Mohr, verfasst und herausgegeben. Es handelte sich um die erste jiddische Zeitung in Galizien und um ein in jeglicher Hinsicht optimistisches Projekt. "Der Kaiser hat uns zu frohen Wesen, zu Bürgern und freien Menschen gemacht", schrieb Mohr nach der Ankündigung der oktroyierten Reichsverfassung im März 1849 an seine jüdischen Leser. "Er hat uns zur Emanzipation geführt, die Ihr täglich spüren werdet." Diese Verheißung trat nicht ein, ganz im Gegenteil, es war der Antisemitismus in allen möglichen Schattierungen, der bald mehrheitsfähig wurde. Bezeichnenderweise brachte eine obrigkeitliche Maßregelung den freudigen Ton Mohrs zum Verstummen. Aus Mangel an finanzieller Unterstützung und Lesern musste er bald darauf die Zeitung einstellen. Von solchen Nachrichten, die von der Realität Lügen gestraft wurden, wollte nun wirklich niemand etwas wissen.

… und letzter Frost

Der kurze Frühling wurde durch einen letzten Frost jäh gestoppt. Die "Preßordnung" von 1852 machte die freie Betätigung der Presse praktisch unmöglich, das im selben Jahr erlassene "Vereinspatent" bedeutete eine Rückkehr zur vormärzlichen Rechtssituation. Die Bildung bzw. Tätigkeit von Vereinen wurde wieder weitgehend eingeschränkt. Der Neoabsolutismus markierte ein "Decennium unfreiwilliger politischer Muße", schrieb Ernst Victor Zenker, einer der ersten Pressehistoriografen, im Rückblick auf diese Zeit. Doch hinter die einmal gemachten Erfahrungen gab es kein Zurück mehr. Der im Hinblick auf den Wunsch nach einem neuen, liberaleren Preßgesetz überlieferte Ausspruch des Staatsministers Anton Ritter von Schmerling - "Wir können warten!" - galt nun mindestens ebenso sehr für die Gegenseite.

Parallelaktionen

Der Durchbruch zu einer politischen Kultur im umfassenden Sinn gelang in den Ländern der Habsburgermonarchie spätestens mit der Einführung konstitutioneller Verhältnisse 1860/61. Die Dezemberverfassung von 1867, das Ende der politischen Dominanz des Liberalismus auf Reichsebene 1879/80 sowie die Einführung der Allgemeinen Wählerklasse 1896 waren weitere Meilensteine mit Signalwirkung und lösten weit gehende Mobilisierungsschübe aus, auch wenn die "flächendeckende Landvermessung" diesbezüglich viele Ungleichzeitigkeiten, Phasenverschiebungen und regionale Besonderheiten verzeichnet. Welcher von den eineiigen Zwillingen - Vereine oder Presse - dabei mehr Triebkräfte entfaltete, lässt sich nicht eindeutig beantworten. Ein exemplarischer Blick auf die handelnden Personen (prominente Beispiele: Moriz Benedikt, Victor Adler, Friedrich Funder) bzw. Personengruppen (u.a. Politiker, die ihre Karriere als Journalisten begannen) verdeutlicht, dass einer systematischen Trennung beider Phänomene, wie sie in der Publikation konsequent durchexerziert wird, bei allem Gewinn auch etwas Künstliches anhaftet.

Katalysator Liberalismus

Die Schlüsselrolle bei der Ausprägung zivilgesellschaftlicher Strukturen in der Habsburgermonarchie spielte ohne Zweifel der Liberalismus, der mit der von ihm forcierten Formulierung der Grundrechte der (staats)bürgerlichen Gesellschaft zum Durchbruch verhalf. Aber schon bald wuchsen den liberalen Honoratioren die Geister, die sie gerufen hatten, über den Kopf. In der Handhabung der von ihnen erkämpften Instrumente der außerparlamentarischen politischen Willens- und Meinungsbildung fanden sie in ihren weltanschaulichen Widersachern ihre Meister. Der zunehmend professionellen, aufs Ganze der Lebenswelten abzielenden "Emotionalisierung eines Massenpublikums" durch den politischen Katholizismus, die Arbeiterbewegung und die eigenen, radikalisierten deutschnationalen Erben hatte der kühle Rationalismus des klassischen Liberalismus wenig entgegenzusetzen. Volksnähe, ja Demagogie, waren seine Sache nicht. Schon 1868 hatte die Neue Freie Presse auf die politische Mobilisierungsresistenz ihrer Leser mit einer frühen Form der "Publikumsbeschimpfung" reagiert und festgestellt, dass mit den "unorganisierten Bürger-Elementen nichts anzufangen" sei.

Massenpresse

In den beiden letzten Dezennien des 19. Jahrhunderts kam es zu einer signifikanten Erweiterung und Verdichtung des öffentlichen Kommunikationsraumes durch ein sich sprunghaft ausdifferenzierendes Vereinswesen und eine Flut neuer Presseerzeugnisse. Einige der nun entstehenden Massenblätter "beschrieben" dabei auch die negative Folie der noch jungen politischen Öffentlichkeit der Vielvölkermonarchie, indem sie sich - wie z.B. das 1893 begründete Neue Wiener Journal - bewusst an die parteiverdrossenen Teile der Bevölkerung richteten und ein "Programm der Programmlosigkeit" vertraten. Demgegenüber bemühten sich parteinahe Tageszeitungen wie die Arbeiter-Zeitung oder die Reichspost primär darum, ihre jeweilige Klientel zu mobilisieren, wofür sie dauerhaft mit wirtschaftlichen Problemen sowie beschränkten Absatz- und Vertriebsmöglichkeiten zu kämpfen hatten.

Schule(n) der Demokratie

Im Unterschied zu den Parlamenten und Landtagen, den "hohen Schulen der Demokratie" und ihren Eliten, vollzog sich die Politisierung der Massen also über Vereine und Parteien und die mit ihnen eng verbundenen Printmedien. Sie fungierten als "Grund-oder Vorschulen" für die "politisch mündigen Staatsbürger", die dort lernen und üben konnten, wie die "große Politik" funktioniert. In der Generationenfolge mussten diese neuen Formen der Bildung fast zwangsläufig zu einer Verlagerung der politischen Gewichte führen. In einem durch unglaubliche Faktenfülle sowie durch wissenschaftliche Akribie bestechenden Standardwerk kann man nun dieses spannende Kapitel der altösterreichischen Geschichte im Übergang zur Moderne studieren.

Der Autor ist Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter der Styria Medien AG.

Politische Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft

Die Habsburgermonarchie 1848-1918, Bd. VIII

1. Teilband: Vereine, Parteien und Interessenverbände als Träger der politischen Partizipation

2. Teilband: Die Presse als Faktor der politischen Mobilisierung

Hg. von Helmut Rumpler und Peter Urbanitsch

Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 2006

2832 Seiten, € 308,-

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