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Soziale Besinnung — soziale Aktion

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In einem seiner geistvollen und doch zugleich von echter menschlicher Weisheit getragenen Aufsätie zur sozialen Frage hat- Thomas Carlyle inmitten schärfster sozialer Spannungen einen bedeutsamen Satz geschrieben: „Wenn wir nicht handeln, so wird etwas von selbst geschehen, und dies in einer Weise, an der niemand eine Freude haben wird. Die Zeit zum Handeln ist wahrhaftig gekommen!“

Dieser Satz kann heute wohl noch mehr Geltung beanspruchen als zur Zeit, da er geschrieben wurde. Aber ein drük-kendes Bewußtsein tiefen Versagens, ewiger Unzulänglichkeit, fast möchte man sagen, die geistige Kapitulation vor den Problemen einer menschlichen Lebensordnung ist zum Merkmal unserer Zeit geworden und mit ihr eine unendliche Müdigkeit. Es gibt gewiß Theorien und Programme und Pläne in hellen Mengen. Aber sie alle sterben rasch unter den Federn ihrer Kritiker, um alsbald neuen Theorien und Programmen Platz zu machen. Alle aber, oder fast alle, fehlen in einem: sie übersehen, daß der Mensch über alle Pläne äußerer Organisation und sozialer Technik hinausragt in den Raum der Freiheit, in den Raum der frei Übernommenen Verpflichtung gegenüber den echten Lebenswerten, die den Inhalt aller dauernden Ordnungen bilden müssen. Und weil sie das übersehen, verbirgt sich hinter all diesen Plänen und Programmen, mögen sie noch so sehr an die sogenannte gesunde Vernunft appellieren, wenn wir näher hinsehen, die Fratze der Gewalt, das Monstrum totalen Organisierens, das Ende der Freiheit.

Wir sollten uns nicht blenden lassen von den politischen Devisen des Tages, die uns eine geistige Orientierung dort vortäuschen wollen, wo wir tatsächlich ratlos vor den Tatsachen und Ereignissen der Zeit stehen. Die meisten dieser Devisen, die als Hoffnung und als Ziel angeboten werden, dienen dazu, Wiederbelebungsversuche an der Vergangenheit anzustellen, an der geistigen Vergangenheit oder an der sozialen Vergangenheit, dienen dazu, Gegensätze zu versteinern, die längst dem Bewußtsein gemeinsamen Schicksals und gemeinsamer Aufgaben hätten weichen müssen. Man kann die Fragen unserer Zeit nur fassen, wenn man der dauernden transzendenten Werte bewußt bleibt, deren Erfüllung die Aufgabe jedes geschichtlichen Augenblickes i s t. Weil wir den Punkt der geistigen Orientierung nicht finden, finden wir auch nicht den Weg zu einer gesunden Sachlichkeit des sozialen Denkens und nicht den Weg zur zeitgemäßen Tat. Wir sind im Grunde “immer hinter den Ereignissen her, von den Ereignissen gehetzt, die uns das Gesetz des Handelns aus den Händen winden. Wir sind in ständiger Defensive gegenüber einer anonymen geschichtlichen Entwicklung, die uns mehr und mehr die Freiheit raubt und die Möglichkeit, unser Handeln von den Gesetzen der Persönlichkeit, ja sogar von anerkannten sittlichen Grundsätzen her zu gestalten. Wir agieren nicht mehr, wir reagieren nur in einem Handeln, „das den Tag gewinnt, nur um den Tag am Abend zu verlieren. Das schlechte Handeln des schlechten „Praktikers“! Das ist nicht der Weg zu jener Tat, die es verhindern könnte, daß „etwas von selbst geschieht, in einer Weise, an der niemand Freude haben wird“.

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