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Als Ausweg aus den „Systemzwängen“

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Die „Ideologiedebatte“ steht im Zeichen des permanenten Legitimationsdefizits der modernen Industriegesellschaft. Die technologischer Automatisierung folgenden „Systemzwänge“, nach Schelsky „Sachgesetzlichkei- ten“, werden weitgehend als illegitim empfunden, von einigen Managern und Technologen abgesehen. Wir kennen diese Sachzwänge aus der Einführung des Computers, der Automatisierung von Serviceleistungen, der Kernenergie-Diskussion. Die Verunsicherung ist zunächst lediglich ein Zeichen dafür, daß unsere Lebensbedingungen, - unser Verhalten - tatsäch-’ lieh unserem Bewußtseinsstanjd voraus sind. Unser BeWußtseinsstand ist von „ewigen Werten“ geprägt. Dem einzelnen wird heute Extremes zugemutet: Seine Lebensbedingungen im Blick auf die alte Ordnung zu gestalten und zu verstehen. „Freiheit“ als politische Garantie zieht aber nicht mehr, wenn die Schere zwischen den Bedingungen und der Orientierung zu groß wird. Wir haben noch Sartres Reden von der „Verurteilung zur Freiheit“ im Ohr.

Die Normalreaktion angesichts dieser Problemlage ist: Wir verdrängen. Es ist jedoch unverantwortlich, wenn wir einerseits den Menschen einreden, sie seien verantwortlich für die Gestaltung ihrer Lebensbedingungen, anderseits das Rationalisierungssystem unserer Lebensbedingungen - selbst gegen den Protest aufmerksam ge wordener Menschen - um jeden Preis durchsetzen wollen. Die Ideologiediskussion hat nur Sinn, wenn sie dort ansetzt, wo sie hingehört: bei der Unverantwortlichkeit des Appells an die Verantwortlichkeit bei gleichzeitiger Verhinderung von Verantwortlichkeit.

Neuerdings ist das Christentum wieder stärker in die Ideologiediskussion gezogen worden. Das Christentum ist keine Ideologie. Die Ideologie ist eine Folgeerscheinung der modernen Industrialisierung, die die soziale Folge der Industrialisierung, die Auflösung traditioneller Bindungen zwischen den Menschen in Familie, Kirche, Staat auffangen soll.’ Das ChristėhtūtTi/išt viel ąltgę. ‘ j£ę hat.piich einen längeren Atem, es würde sich seiner Würde begeben, wollte man es in die Niederungen kurzfristiger ideologischer Denkmuster einsperren.

Daher ist aber auch das Christentum heute in keiner - ich sage ausdrücklich: in keiner einzigen - Institution ausschließlich repräsentiert. Ganz einfach deswegen, weil jede Institution heute auf die industriegesellschaftlichen Realisierungsbedingungen ein- gehėn muß, von ihnen abhängt. Die soziale Stellung etwa der Kirche ist nicht anders als die der Gewerkschaft zu begreifen. Gewöhnlich heißt dieser Befund „pluralistisches System“. Trotzdem wäre es zu kurz gegriffen, wenn man das, worum es in der Kirche geht, auf die industriegesellschaftlichen Realisierungsbedingungen zurecht stutzen wollte. Eine so zurechtgestutzte Kirche wäre keine mehr.

Hier ist auch die Diskussion um den Erzbischof Lefebvre anzusiedeln.-Wir sind uns offenbar noch nicht klar darüber, daß die Realisierungsbedingun- geri keineswegs die Botschaft „aufschlucken“. Die Freiheit von dem Systemzwang ist das Thema der Ideologiediskussion, die mit dieser Neuformulierung verändert wird: aus einem Beherrschungsinstrumentarium zur Formulierung der Voraussetzung einer menschenwürdigen Lebenswelt, in der etwas vom Auftrag der Kirche spürbar wird.

Die Bedingungen für ein Heraustreten aus dem Zwang der Industrialisierungsperspektive, die die Welt nur als Fabrik ansieht, sind heute viel günstiger als ehedem: Das Fundament der Industrialisierung, das empirisch-analytische Denken ist sich seiner nicht mehr so sicher wie einst. Mit der nicht mehr vermeidbaren historischen Wendung der Wissenschaftstheorie ist ein Prozeß der Entflechtung eingeleitet, dessen Folgen noch nicht überschaubar sind. In diesem Zusammenhang rückt erstmals die seit Leibnitz verlorengegangene Einheit der Kultur als Traum in den Blick. Teilhard de Chardin war ein einsamer Vorposten auf dem Wege, weithin unverstanden und unzeitgemäß.

Wir werden ständig mit einer Krise der gesellschaftlichen Leitbilder konfrontiert: Nach den Leitbildern Prie-, ster, Fürst, Universitätsprofessor sind jetzt auch die Unternehmer und Intellektuellen gefährdet. Eine universale Angestelltenmentalität, gekennzeichnet durch Fehlen von Courage, durch doppelte Moral, macht sich breit: Sozialisierungsreife heißt die Diagnose. Wir haben mit struktureller Arbeitslosigkeit zu rechnen, wir müssen an eine Neukonsolidierung der Arbeitswelt denken. Erhebliche Anforderungen werden an die Kommunikationsfähigkeit der Menschen gestellt werden. All dies erfordert die großangelegte Diskussion eines Problemkatalogs, ohne Rücksicht auf Rücksichten.

Wer nur denkt, um die nächste Wahl zu gewinnen, ist bereits disqualifiziert. Er stellt ein Eigeninteresse über die Lebenschancen für alle. Wir werden Politik-fieii bestimmen müssen.

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Unserę’Diskussion stębt im.-Hoii- zont der internationalen Perspektiven. Vertreter der Dritten Welt werden unsere Defizitanalyse als Trick ansehen, die ihre Länder um den Anteü am Wohlstandskuchen bringen soll. Vertrauensgewinn wird unerläßlich, wo es um das gemeinsame Überleben in einer Welt der Katastrophen, des Hungers, der Gefahr des globalen Selbstmordes einer Spezies geht. Gewaltanwendung wäre tödlich, auch wenn sie von christlichen Kanzeln gepredigt wird, wie gar nicht so selten in der Dritten Welt. Es heißt, am Menschen verzweifeln, wenn wir auf Gewalt als letzten Schritt setzen.

Die Ideologiedebatte wird Perspektiven aufreißen und verständlich machen müssen, die uns alle angehen. Diese Perspektiven werden den kurzfristigen Nutzen übersteigen müssen.

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