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Das Dilemma der Kirchen
Zwei Staaten statt der bisherigen Tschechoslowakei - muß das sein? Oder ein souveränes Mini-Slowenien? Und überhaupt der Zerfall nicht nur des einstigen Jugoslawien, sondern auch der Ex-Sowjetunion, mit der man - schwer genug, aber bisweilen halt doch - verbindliche Abrüstungsverträge abschließen konnte, während der an sich sensationelle START-II-Vertrag zwischen den USA und Rußland fragwürdig bleiben muß, solange die Ukraine, Weißrußland und Kasachstan nicht mitziehen?
Keine Frage: Der Westen findet sich mit dem Zerfall der kommunistischen Imperien nur unwillig ab. Irgendwie schien früher alles leichter zu sein. Das ist eine verständliche, aber keineswegs schlüssige Überlegung.
Man halte sich nur einmal den Vergleich zwischen Religion und Nationalismus vor Augen. Beide glaubte der Kommunismus auf dem Weg des Klassenkampfes erledigen zu können: In der klassenlosen Gesellschaft, in der freiwillig jeder leistet, was er kann, und erhält, was er benötigt, braucht der Mensch keine nationale Identität, braucht er auch keine religiöse Identität mehr. Bis es so weit war, wollten die Kommunisten den Menschen Reste dieser zum Absterben verurteilten Ideologien noch beschränkt zugestehen: ein bisserl Nationalproporz in der KP Jugoslawiens, ein bisserl Pfarrer- und Pope-Spielen auch in roten Imperien.
Wir wissen, wie das mit der Religion war: Sie erwies sich als tausendfach stabiler als die marxistische Ideologie, die katholische Kirche wurde in Polen, die evangelische in der DDR zum Hort des Widerstands.
Ein Pfarrer trat die Revolution in Rumänien los. Warum sollte der Nationalismus, der wie die Religion jahrzehntelang unterdrückt worden war, plötzlich ausgestorben sein? Wen wundert es, daß die serbisch-orthodoxe Kirche zumindest halb und halb auch auf den Nationalismus setzt, den die Kommunisten als politischen Rettungsanker entdeckt haben?
Dem Moskauer Patriarchat entgleiten einzelne Teilkirchen - schon gibt es eine autokephale orthodoxe Kirche in der Ukraine. Wird diese Tendenz die immer staatsnahe russische Orthodoxie in die Arme einer nationalistischen Regierung zurücktreiben?
Die Kirchen Ost-, Südost- und Mittelosteuropas stehen vor einem schweren Dilemma: Förderung eines hemmungslosen Nationalismus durch Bundesgenossenschaft mit diesem oder Herauslösen der unverzichtbaren Werte aus dem Nationalismus und Einbringen dieser Werte in eine plurale, säkularisierte, den Einfluß der Kirchen auf den ersten Blick schwächende, auf Sicht aber erhaltende Demokratie? Der gegenwärtige Streit in Polen um Verfassung, Religionsunterricht und Abtreibungsverbot zeigt, wie schwer die Entscheidung dort heute wird - und wie froh wir sein müssen, daß sie bei uns längst gefallen ist.
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