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„Das Politbüro ist keine karitative Vereinigung”

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Erfolg oder Mißerfolg der Vier- mächtege spräche über Berlin werden erhebliche Auswirkungen auf jede Entspannungspolitik im allgemeinen und die Ostpolitik im besonderen haben, und ein Erfolg oder Mißerfolg der Verhandlungen über die Begrenzung strategischer Waffensysteme wird nicht ohne Konsequenzen für die europäischen Bemühungen bleiben können, die militärische Stärke in Europa im ganzen herabzusetzen, ohne das Gleichgewicht der Kräfte zu beeinträchtigen.

Die Aufrechterhaltung des Gleichgewichts ist nicht nur unser Interesse. Es ist auch das Interesse Polens, Ungarns, Rumäniens und ihrer politischen Führer,

ganz zu schweigen von den Jugoslawen, von den Schweden oder von den Neutralen insgesamt. Dies ist so, weil nur ein stabiles Gleichgewicht einen gewissen Spielraum für eine autonome nationale Politik beläßt.

Es wird viel über die Motive der Sowjetunion gerätselt, mit der Bundesrepublik Deutschland einen Vertrag über Gewaltverzicht abzuschließen und sich überhaupt auf eine Diplomatie der Entspannung einzulassen. Ich glaube, ein überragendes Motin der sowjetischen Führer ist: Sie haben inzwischen verstanden, daß die Sowjetunion noch Jahrzehnte brauchen wird, um den Lebensstandard der Amerikaner einzuholen oder ihn gar zu überholen. Sie fragen sich — und man spürte das auch auf dem jüngsten Parteitag der KPdSU vor einer WochA —, ob sie es sich weiterhin leisten können, zehn Prozent ihres Bruttosozialprodukts für Zwecke der Rüstung auszugeben.

Wir haben ein Interesse daran, daß der Lebensstandard in der

Sowjetunion wächst. Zufriedene und erfolgreiche politische Führer sind weniger gefährlich als solche, die vielleicht eines Tages von der inneren Erfolglosigkeit auf äußere Erfolge ablenken müßten. Übrigens: die Sorge, die Bundesrepublik könne dabei zu viel des Guten tun, ist völlig unbegründet. Man muß wissen, daß der deutsch-sowjetische Wirtschaftsaustausch heute etwa nur den gleichen Umfang hat wie der zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem winzigen Großherzogtum Luxemburg;

selbst wenn wir den Umfang des deutsch-sowjetischen Handels verdoppeln könnten, würde er immer noch nur einen Bruchteil des Handels z. B. zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Holland ausmachen.

Das zweite Motiv der sowjetischen Führung ist sicherlich die von ihr mit Besorgnis betrachtete langfristige Entwicklung des Rivalitätsverhältnisses zu China. Die Chinesen mögen ihre Macht einstweilen überschätzen, doch die Sowjetunion und auch die Vereinigten Staaten gehen davon aus, daß das machtpolitische Gewicht Chinas in Zukunft beträchtlich größer sein wird.

Die Sowjetunion wird sicherlich nichts von dem Einfluß aufgeben, den sie heute auf Europa ausübt, sie wird nichts hergeben, was sie mit Beschlag belegt hat. Das Politbüro im Kreml ist keine karitative Vereinigung. Die Sowjetunion ist eine Supermacht, die in ihrer Außenpolitik sowohl von kommunistischen als auch von zum Teil klassischen russischen Motiven bestimmt wird. Darüber sollten wir keine Illusionen haben.

Aber solange die sowjetische Führung sich von diesen beiden von mir genannten Motiven leiten läßt, hat sie auch ein Interesse daran, zum Beispiel mit dieser zentralen Macht in Europa, mit der Bundesrepublik Deutschland, in ein für sie erträgliches, normales, den wirtschaftlichen Austausch förderndes Verhältnis zu gelangen.

Die Gefahr einer sowjetischen Penetration Westeuropas ist gering, solange der Westen und seine Führungsmacht sich über die Grundlagen der eigenen Interessen im klaren bleiben. Die Gefahren sind deshalb gering, weil der Westen die eigenen Notwendigkeiten zum gegenwärtigen Zeitpunkt klar erkennt. So muß es bleiben.

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