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Die Sorge für die Seele

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Eine gründliche Besinnung auf die Wurzeln des humanistischen Erbes, in dessen Namen seit Jahrhunderten immer neu und angeblich endgültig die einzig wahre Wesensart und Bestimmung des Menschen proklamiert wurde, mußte sich schon oft als geistiges Bollwerk gegen totalitäre Doktrinen bewähren. Dies gilt besonders für das östliche Mitteleuropa, wo der dort gerade notwendige Rückgang ad fontes — zu den Quellen - der europäischen Kultur zuzeiten lebensgefährlich war, wie Jan Patočka, der 1907 in Böhmen geborene Philosoph, am eigenen Leibe erfuhr. Nicht nur verwehrten dem seit 1936 Habili-

tierten die jeweiligen Machthaber 1939 und 1949 für Jahre seine Lehrtätigkeit und entzogen sie ihm 1972 durch vorzeitige Pensionierung ganz; auch sein Tod im März 1977 steht im Zusammenhang mit seinem bei den Herrschenden mißliebigen kulturpolitischen Engagement.

„Ketzerische Essais zur Philosophie der Geschichte“ bezeichnen so kein unverbindliches wissenschaftliches Programm; sie bekennen eine Lebenshaltung. Deshalb wohl haben Klaus Nellen und Jifi Nemec diesen Titel einer Sammlung von Aufsätzen des tschechischen Gelehrten für den zweiten Band der ausgewählten Schriften Jan Patočkas in deutscher Sprache übernommen.

In seinem ersten Teil finden sich acht Arbeiten aus den siebziger Jahren, unter anderem die oben erwähnten. Sie erläutern die These von der Geburt Europas aus dem „Urwissen“ der sokratisch-platonischen Philosophie; sie hat das menschliche Dasein als „bios politikos“ entdeckt.

Die gleich ursprüngliche Findung von Philosophie und Politik bringt dann erst den geschichtlichen Menschen hervor, der die „Sorge für die Seele“ als eine „le benslange, forschende, sich selbst kontrollierende und integrierende Denk- und Lebenspraxis“ übt.

Das vorgeschichtliche Menschentum der frühen Hochzivilisation stellt dagegen für Patočka nur „kolossale Haushalte“ dar, die im fraglosen Akzeptieren und Reproduzieren des Gattungslebens, in selbstverzehrender Arbeit verharren. Mit dem Aufbruch der Fraglichkeit, rund fünfhundert Jahre vor unserer Zeitrechnung, mit der Erschütterung aller bisherigen Gewißheit über die Weltordnung, geht diese mythisch bestimmte Geborgenheit unwiederbringlich verloren.

Der zweite Teil des Bandes, „Europa — Anfang und Ende der CJeschichte“ benannt, umfaßt drei weitere Aufsätze aus den siebziger Jahren sowie drei frühe Arbeiten von 1934,1935 und 1941. Alle umkreisen in phänomenologischer Deutung die Ideen- und Seelenlehre Piatons. Sie zeigen das „alte europäische Prinzip der Sorge für die Seele“ in seiner Bedeutung für die Entwicklung des christlichen Abendlandes. Besonders kommt nun der Verfall desselben in den Blick. Begründet im Selbstmißverständnis der Vernunft, die sich zur technischen

Rationalität reduziert, befangen in „Seinsvergessenheit“, ist die Krise unausweichlich in Anbetracht der ursprünglichen Ambivalenz der „Sorge für die Seele“, die sich gleichermaßen auf das vereinzelte Seiende und auf das Sein im Ganzen richtete.

Jan Patočkas Auseinandersetzung mit den Denkbewegungen Edmund Husserls und Martin Heideggers kommt hier freilich zum Tragen. Die dort geübte genetische Betrachtungsweise bringt erst die Sinnzusammenhänge allen Geschehens ans Licht. Sie ermöglicht die wichtige Unterscheidung zwischen Oberflächen- und Tiefenhistorie. Diese läßt schließlich Versuche „zur Diagnose der Gegenwart“ gelingen, wie sie die zwischen 1946 und 1973 verfaßten vier Beiträge des dritten Teils präsentieren.

Die dankenswerte Edition eines so lebendigen, unorthodoxen Denkens wird durch die Sprachgrenzen gewißt nicht wenig erschwert, von der inhaltlichen Komplexität ganz zu schweigen.

KETZERISCHE ESSAYS ZUR PHILOSOPHIE DER GESCHICHTE. Von Jan Patočka. Herausgegeben von Klaus Nellen und Jifi Nemec. Institut für die Wissenschaften vom Menschen, Wien. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 1988. 497 Seiten. Ln.. öS 998.-.

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