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Ein lieber David in Rot-Weiß-Rot
Am 26. Oktober, dem Nationalfeiertag, werden sich die Österreicher wieder „fit"-marschieren. Land und Leute zwischen Neusiedler- und Bodensee haben indes zu einer unverwechselbaren Identität gefunden.
Am 26. Oktober, dem Nationalfeiertag, werden sich die Österreicher wieder „fit"-marschieren. Land und Leute zwischen Neusiedler- und Bodensee haben indes zu einer unverwechselbaren Identität gefunden.
Im Gegensatz zu nationalistischen Ideologien, in denen die Nation und ihre Anforderungen den höchsten Rang in der Wertehierarchie hatten, ist im heutigen Verständnis junger Österreicher die Menschenwürde der oberste und zentrale Wert.
Der Staat und alles, was damit zusammenhängt, hat eine subsidiäre Aufgabe bei der Verwirklichung dieser Menschenwürde.
Das Österreichbewußtsein, wie es aus zahlreichen Jugendstudien vor Augen tritt, setzt sich zumindest aus vier Elementen zusammen.
• Die Menschen:
Die Österreicher finden sich zu einem großen Teil wegen ihrer Schwächen liebenswürdig. Das österreichische System der Kompromisse und einer gewissen Irrationalität macht die „Menschlichkeit" der Österreicher aus.
Noch in der Studentenbewegung der sechziger Jahre glaubte ein großer Teil der Jugend an die Macht der Rationalität. Verschiedene Gründe waren dafür ausschlaggebend, daß diese Idee des Rationalismus viel von ihrer Kraft eingebüßt hat: die Einsicht in die „Grenzen des Wachstums", die widersprüchlichen Gutachten von Wissenschaftern usw. haben vor allem der Jugendgeneration die Begrenztheit wissenschaftlich-technischer Rationalität vor Augen geführt.
Dieser Prozeß führte nicht zu einer gänzlichen Abkehr von zweckrationalen Entscheidungen, sondern zu einer Eigenschaft, die dem Selbstimage vieler Österreicher sehr nahe kommt.
Im Selbstbild der jungen Österreicher haben Kompromißbereitschaft und die Akzeptanz unvollkommener Lösungen kaum einen negativen Beigeschmack.
• Die engere Heimatregion:
Vor allem Studien bei Präsenzdienern haben ganz deutlich gezeigt, daß wir bei Österreichs Jugend eine relativ hohe Verteidigungsbereitschaft hinsichtlich der engeren Heimatregion vorfinden.
Diese Bindung an die regionale, begrenzte Heimat wird gerade in den letzten Jahren durch eine hohe Bereitschaft vieler Jugendlicher begleitet, sich in ihrer Region in den verschiedensten Vereinigungen und Organisationen zu engagieren. Die Jungfeuerwehren, das Rote Kreuz, die Musikvereine sind in vielen Gebieten zu den größten Jugendorganisationen geworden.
Junge Menschen wollen in ihrem Lebensraum Gemeinschaft und das Gefühl finden, gebraucht zu werden und nützlich zu sein. Dort, wo ein Mensch Zeit, Arbeit und Anstrengung für das Funktionieren und für die Gestaltung des Gemeinwesens investiert, dort gewinnt dieses Gemeinwesen einen hohen persönlichen Wert.
Vor allem in den ländlichen Regionen wird über diesen Weg eine hohe Heimatbindung entwickelt.
• Die staatlichen Organisationen:
Die Identifikation der jungen Österreicher mit ihren staatlichen Institutionen ist denkbar gering und hat fraglos einen Tiefstand erreicht.
Noch 1976 führten die inländischen Politiker die Reihe jener Personen an, vor denen Österreichs Jugend den größten Respekt hatte. Heute rangiert der Politikerstand am unteren Ende dieser Skala.
Politik wird mit Korruption, Machtinteresse, Karrierestreben und Skandal gleichgesetzt.
Als Folge dieses Negativimages des politischen Geschehens hat sich die Einstellung zum Staat immer mehr dahingehend entwik-kelt, daß Staat und Demokratie als bislang erfolgreichstes Instrument der persönlichen Existenzsicherung gesehen werden.
Durch unsere demokratische Entwicklung in der Nachkriegszeit ist es den meisten Österreichern gelungen, einen relativ hohen Lebensstandard und einen einigermaßen ausgedehnten persönlichen Freiraum aufzubauen. Der Wert der Demokratie bestimmt sich daraus.
Wenn aber die Funktion der Existenzsicherung vom demokratischen System nicht mehr erfüllt werden kann, dann wird Demokratie ihren Wert wieder verlieren.
• Abkehr von rationalen Großstrukturen:
Der Glaubwürdigkeitsverlust von Wissen, Politik und Wachstum hat zur Infragestellung der großen wirtschaftlichen und politischen Strukturen bzw. Organisationen geführt.
Großstrukturen und Großindustrien werden gleichgesetzt mit Umweltzerstörung und bloß sachlichen statt persönlichen Beziehungen zwischen den Menschen.
Eindeutig setzen die jungen Österreicher starke Hoffnungen in Kleinstrukturen, vor allem auch in Kleinbetriebe. Der Traum vom Goliath ist der Hoffnung auf David gewichen.
Die derzeitige Rückbesinnung auf überschaubare Lebensbereiche und das beobachtbare Engagement darin könnten eine Verstärkung patriotischer Bindungen und gesellschaftlicher Partizipation bewirken, die letztlich auch zu einer höheren Form demokratischer Mitgestaltung führen müßte.
Voraussetzung dafür ist aber, daß es gelingt, die Probleme der Wirtschaft, der Vollbeschäftigung und des Umweltschutzes, aber auch die Sicherung der persönlichen Freiräume zu gewährleisten.
Der Autor ist Leiter des österreichischen Instituts für Jugendkunde.
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