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Europa — was ist das?

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Die Propyläen-Geschichte Europas, angelegt auf sechs Bände ebensovie-ler erstrangiger Autoren, ist nicht nur aus der Perspektive der Verlagsbranche ein großes, ein äußerst anspruchsvolles Unternehmen. Schon der erste Band, „Anspruch auf Mündigkeit“, der, von Hellmut Diwald geschrieben, die Zeit von 1400 bis 1555 behandelt, ist ein politischpsychologischer Paukenschlag. Geschichtsschreibung aus europozentri-schem Blickwinkel ist in den letzten Jahren gründlich in Mißkredit geraten. Hier wird dieser Blickwinkel wieder in seine Rechte eingesetzt.

Hat er noch welche? Ist eine Geschichtsschreibung, die Europa als den Nabel der Welt betrachtet, überhaupt noch erlaubt? Offensichtlich ist es die Prämisse dieses neuen historischen Großwerkes, daß die Betrachtung der Weltgeschichte von einem festen europäischen Standpunkt keinem Vorurteil entspringt. Daß, im Gegenteil, jene einem Vorurteil zum Opfer fielen, die da meinten, die Perspektive zurechtrücken zu müssen.

Tatsächlich haben die Versuche, „Weltgeschichte“ anders als europo-zentrisch zu schreiben, sehr oft im Krampf geendet. Das könnte zwei Gründe haben. Einmal den der falschen Alternative. Die Alternative zur europozentrischen Geschichtsbetrachtung ist nicht der fiktive Sankt-Nimmerleins-Ort, dazu müßte man schon der Hegeische Weltgeist persönlich sein. Geschichtsschreibung ohne Standort muß scheitern. Die Alternative zur Geschichtsschreibung aus europäischer Sicht wären historische Gesamtdarstellungen chinesischer, arabischer, afrikanischer, indischer Autoren. Sicher könnten gerade wir Europäer aus dem Bild, das dabei entstünde, viel lernen.

Der andere Grund für das Scheitern vieler Versuche namentlich europäischer Autoren oder solcher, die Ableger-Kulturen Europas entstammen und letzterem alles verdanken, die europozentrische Darstellung zu „überwinden“, liegt aber tiefer. Auch der geschworenste Feind europozentrischer Geschichtsschreibung will ja nicht Geschichte zur Aufzählung alles Gewesenen degradieren, will nicht auf Geschichtsschreibung als verstehendes Eindringen in den historischen Prozeß, man nenne ihn final, dialektisch oder sonstwie, verzichten. Geschichtsschreibung als Nachzeichnen von Entwicklungslinien aber kommt nicht ohne Rangordnungen aus. Vielleicht nicht Rangordnungen der Güte und Bravheit, aber sicher der Bedeutung. Wer die Weltgeschichte des letzten halben Jahrtausends darzustellen sucht, beschreibt nun einmal, wo nicht in Europa Geschehenes, doch Geschehen durch Europa — Ausstrahlungen Europas, Wirkungen Europas, positive und negative, aber eben immer Europas, Vor- und Rückschritte Europas, aber immer Europas als Vorhut der Entwicklung.

Wer den Begriff des Fortschrittes oder auch nur den der Entwicklung, des historischen Prozesses, gelten läßt, kann nicht umhin, ihn jeweils da oder dort, seit langem aber in Europa, vorangetrieben zu sehen. Gesichtsschreibung mit der Prämisse demokratischer Gleichrangigkeit der Völker und Kulturen ist durchaus möglich — aber leider nur unter Preisgabe des europäischen Geschichtsverständnisses. Eben dies verurteilt die angepeilte anti-europo-zentrische Geschichtsschreibung zur contradictio in adjecto.

Hellmut Diwald aber setzt mit dem ersten Band der Geschichte Europas einen harten Paukenschlag. Denn die Geschichte Europas setzt hier plötzlich ein, unter weitgehendem Verzicht auf Vorangegangenes. Europa mit dem Jahre 1400 beginnen zu lassen, erscheint auf den ersten Blick willkürlich, wenn nicht widersinnig. Beides aber nur dann, wenn man in diesem Werk nur das Nachschlagwerk sieht, oder, noch schlimmer, den opulent illustrierten, kostbar ausgestatteten Prachtwälzer für den Bücherschrank besserer Leute. Wenn diese Geschichte Europas aber publiziert wurde, um gelesen zu werden und Wirkungen zu haben,

dann beruht der Einsatz mit dem Jahre 1400 offenbar auf einer außerordentlich interessanten strategischen Erwägung. Welcher?

Man hätte Europas Geschichte ohne weiteres und vielleicht richtiger in der Antike beginnen lassen können. Dann wäre alles, was heute Europa ausmacht, als Ableger und Fortsetzung der Antike fremdbestimmt erschienen (ganz abgesehen von der Konventionalität solchen Vorgehens). Man hätte mit dem Jahre 800 einsetzen können. Das wäre dann aber ein gerade langsam zu sich selbst findendes, noch völlig introvertiertes, rückblickendes, auf sich selbst bezogenes Europa gewesen. Daß dieses Werk mit dem Jahre 1400 einsetzt und daß der erste Band „Anspruch auf Mündigkeit“ heißt, ist ein Versprechen, ist mehr, ist ein politisches Programm. Es ist zugleich ein Signal: Hier wird zwar auch, aber nicht nur Geschichte abgehandelt, sondern ebensosehr Europas Mündigkeit heute. Europas historischer Anspruch.

Dieses durchaus und im besten Sinne europozentrische Geschichtswerk springt genau dort in den Lauf der Geschichte, wo Weltgeschichte europozentrisch wird, wo Europa die Geschicke der Welt zu bestimmen beginnt. Alles andere war nur Auftakt. Aus der Sicht, aus der dieses Werk geplant und geschrieben wurde, erscheint offensichtlich nicht so interessant, woher die Stafette kam. Gezeigt werden soll, was Europa mit ihr gemacht hat — und wo sie sich jetzt befindet. Womit Geschichte wieder einmal zu einer ihrer ältesten Aufgaben gefunden hätte: Den Lebenden die Orientierung zu er-

leichtern. Europa braucht augenblicklich Orientierung. Europa hat ein schreckliches Sündenregister, aber eine zum historischen Masochismus verkommene Geschichtsschreibung macht keine der began-genenen Sünden wieder gut. Es wäre daher falsch, dieses Werk nur im Kontext mit einem „konservativen Trend“ zu sehen. Es versucht, zu einem neuen europäischen Selbstbewußtsein beizutragen. Der Mangel an einem solchen, vielleicht erstmals von Oswald Spengler unbewußt massiv signalisiert, ist, da er ein psychologisches und ein Macht-Vakuum schafft, längst zu einer Gefahr für alle geworden.

Der europäische Blickwinkel ist freilich nicht ungefährlich. Es lauern die Gefahren eines kontinentalen Lokalpatriotismus, es lauert die Versuchung zur Ungerechtigkeit. Seit Diwalds Wallenstein-Biographie wissen wir, daß er die höhere Form des Historikers, den Geschichtsphilosophen, verkörpert. Hoffentlich halten die weiteren Bände das Niveau. Man darf gespannt sein, ob und wie der Kolonialimus, der Sklavenhandel und ähnliche europäische Freundlichkeiten gegenüber dem Rest der Welt vorkommen werden.

Diwalds Darstellung wäre in vielen Punkten zu diskutieren — er ist nun einmal ein Mann mit handfesten Meinungen, und er trägt sie temperamentvoll vor. Er geht gern über Dinge, die ihm nicht so sehr liegen, recht flüchtig hinweg. Was macht es angesicht der Tatsache, daß hier Geschichte nicht registriert, sondern mit auch in literarischer Hinsicht beachtlichen Stilmitteln, mit Engagement, vor allem aber mit

dem langen Atem eines großen Erzählers vorgetragen wird! Vor allem aber mit einer profunden Sachkenntnis. Schade, daß der Universalist der europäischen Geschichtsschreibung heute nicht mehr möglich ist. Hellmut Diwald hätte das Zeug dazu.

Es ist hier unmöglich, auf die Einzelaspekte einzugehen. Was an der Darstellung am meisten frappiert, ist ihre Knappheit und Prägnanz. Eine Seltenheit gerade unter Historikern: Diwald schreibt eigentlich in jedem Kapitel etwas weniger als man gerne gelesen hätte, die Neugierde bleibt wach. Dabei ist der gebotene Faktenreichtum ungeheuer.

Nur auf einen Aspekt wollen wir zurückkommen, weil er beweist, daß Diwalds Blickwinkel gar nicht so europozentrisch ist, jedenfalls keinesfalls im Sinne einer Verkürzung auf fremde Kosten. Im Kapitel über „Das osmanisch-europäische Reich“ (aber auch an anderen Stellen) dürfte er manche allzu Europa-Bezoge-ne vor den Kopf stoßen, wenn er das überholte Feindbild der „bösen“ Osmanen als Widerpart des „guten“ Abendlandes in seinen Grundfesten erschüttert. Das heißt: gerade dort, wo es um die Lokalisierung der „Stafette“, hier des Fortschritts zu Freiheit und Menschlichkeit, geht. Die Konzeption der Freiheit, so Diwald, war im Islam nicht schwächer ausgebildet als im christlichen Abendland. Anderseits aber sieht er die so oft total verteufelten Kreuzzüge als ein Unternehmen, das, als Nebenprodukt, einen starken Effekt in Richtung auf eine europäische Einigung hatte.

ANSPRUCH AUF MÜNDIGKEIT von Hellmut Diwald. Band 1 der Propyläen-Geschichte Europas.

486 Seiten, zahlreiche Farbtafeln, Textabbildungen und Karten, öS 1293.60.

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