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Europäisches Denken

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Nachbarschaftsverträge zur kulturellen Zusammenarbeit zwischen Völkern und Staaten sind gut; besser jedoch gelingt oft der direkte Gedankenaustausch Gleichgesinnter, auch über Sprach- und Landesgrenzen hinweg. Dies vor allem dann, wenn die „andere, tiefere und wahrhaftigere Sprache" gefunden wird, wie sie schon der Dramatiker Vaclav Havel in den Worten seines Landsmanns Jan Patocka vernahm. Sie mag ihn bestärkt haben bei seinem eigenen „Versuche, in der Wahrheit zu leben".

Fünfzehn Jahre sind vergangen, seit sich beide gemeinsam für die Charta 77 einsetzten. Den Philosophen Patocka, der heuer 85 Jahre alt geworden wäre, kostete solche „Bewegung der menschlichen Existenz" das Leben: er ist im Frühjahr 1977 nach verschärften Polizeiverhören in Prag gestorben. Sein Weggefährte Havel muß heute als Staatsmann alle in langen Leidensjahren gewachsene Integrität und Autorität aufbieten gegen mancherlei Ressentiments, um die vielfältigen Verbindungen im mitteleuropäischen Kulturraum neu zu beleben, die einmal selbstverständlich waren: so hatte Patocka in Prag, Paris, Berlin und Freiburg studiert.

Frühzeitig zog er Parallelen zwischen „Masaryk und Husserls Auffassung der geistigen Krise der europäischen Menschheit" (1936); er machte auf Karl Jaspers aufmerksam, als diesem 1937 in Heidelberg von den Nationalsozialisten die Lehrerlaubnis entzogen wurde. Ein aus diesem Grund verfaßter Aufsatz und der gut dreißig Jahre spätere „Nachruf auf Karl Jaspers" (1969) dokumentieren ebenso Patockas ständige Auseinandersetzung mit gesamteuropäischer Geistestradition, besonders mit der deutschsprachigen Philosophie. Der böhmische Gelehrte verstand sich selbst ausdrücklich als Verfechter der dort damals rasch an Bedeutung gewinnenden Phänomenologie, die er von Edmund Husserl und Martin Heidegger persönlich in Freiburg gelernt hatte. Dem Existenzialismus stand er zwar interessiert, aber eher skeptisch gegenüber. Gleichwohl befaßte er sich freilich mit dessen wesentlichen Werken und Autoren, neben Jaspers vor allem J. P. Sartre und M. Merleau-Ponty, die auf diesem Gebiet in Frankreich führend waren.

Alle diese Arbeiten findet man unter vielen anderen sorgfältig ediert im umfangreichen vierten Band der ersten deutschen Ausgabe „Jan Patocka. Ausgewählte Schriften", die seit 1987 am Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen publiziert wird. Das Vorwort eines der Herausgeber, Ilja Srubar, will dem „kundigen Leser... einen Leitfaden" an die Hand geben, der die Entwicklung von Patockas Denken skizziert, wie sie sich in den vorgelegten Texten widerspiegelt. Dabei ist Gelegenheit gegeben, PatockasWirken im Überblick über vier Jahrzehnte zu betrachten, das sich stets gegen die schwierigsten politischen Verhältnisse behaupten mußte - nur allzu selten an der Prager Karls-Universität, sonst meist im Untergrund, als Samisdat, oder im Ausland.

Philosophische Grundfragen nehmen dabei natürlich breiten Raum ein, zum Beispiel: „Was ist Existenz" (1969), „Weltganzes und Menschenwelt" (1972) oder „Was ist Phänomenologie" (1979). Wie die zwei zuletzt genannten Beiträge schrieb Patocka oft selbst deutsch, manchmal auch französisch, für direkte Publikationen oder für Vorträge in den entsprechenden westlichen Nachbarländern. Grenzüberschreitend ist seine Sprache aber auch im weiteren Woitsinn. Sie verfolgt einen langen Denkweg, der vor gut zweieinhalbtausend Jahren im äußersten Südosten Europas, im antiken Griechenland begann. Lateinisches Mittelalter, französische, englische und deutsche Aufklärung markieren weitere Entwicklungsstufen; der Südmährer Husserl gab letztlich den Impuls für eine neue Bewegung des Denkens quer durch Europa, die Heidegger aufnahm, um seinerseits Nach-Denker zu inspirieren: Jan Patocka sprach wesentlich mit an dieser Schwelle zur Postmodeme.

JAN PATOCKA. DIE BEWEGUNG DER MENSCHLICHEN EXISTENZ. Herausgegeben von Klaus Neuen, Jiri Nemec und Ilja Srubar am Inst. für. d. Wissenschaften vom Menschen. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 1991, 650 Seiten, öS 1.404.-.

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