7048999-1990_45_08.jpg
Digital In Arbeit

Analysen zur Lebenswelt

Werbung
Werbung
Werbung

Im Jahr 1987 begann das Institut für die Wissenschaften vom Men-schen in Wien bisher verstreute, schwer zugängliche Texte des tsche-chischen Gelehrten Jan Patodka (1907-1977) als fünfbändig konzi-pierte Reihe "Ausgewählte Schrif-ten" auf deutsch herauszugeben. Damals hätte niemand eine Ver-wirklichung von Piatons Traum für möglich gehalten: daß nämlich Philosophen, wenn nicht Könige, so doch Präsidenten werden könnten. Heute stünde PatoCka wohl an der Seite seines Mitstreiters für die Charta 77, des tschechoslowaki-schen Staatspräsidenten Vaclav Havel, rehabilitiert im Licht der Öffentlichkeit, wäre er nicht schon 1977 gestorben.

Sein Werk wurde glücklicherweise vor der Willkür früherer Machthaber bewahrt; nach der Essaysammlung zur deutschen und tschechischen Literatur, "Kunst und Zeit" (1987) sowie dem geistesgeschichtlich orientierten Band " Ketzerische Essais zur Philosophie der Geschichte" (1988) kann deshalb nun auch die Habilitationsschrift Patodkas erstmals auf Deutsch vor-gestellt werden und damit der zen-trale Bereich seines Schaffens, die phänomenologische Arbeit.

Wer befürchtet, die anspruchs-volle Studie sei hur für Fachleute geeignet, ist von der umsichtigen Edition, die wieder Klaus Nellen und Jifi Nemec besorgten, angenehm überrascht. Patockas klare Sprache in der sachkundigen Übersetzung durch EliSka und Ralph Melville erlaubt flüssige Lektüre, ergänzende Texte geben zudem wertvolle Verständnishilfen für die vom Autor selbst als "Einführung in die Philosophie" bezeichnete Schrift.

So umreißt dessen langjähriger Freund und Kollege Ludwig Land-grebe im Vorwort die persönliche und wissenschaftliche Situation der gemeinsam in Prag verbrachten Jahre 1933 bis 1939. Er betont, daß von der ersten Begegnung an ihre Gespräche "niemals rein philosophische Diskussion" gewesen seien; vielmehr habe der böhmische Phänomenologe "das persönliche Leben, die Familie, die Erörterung der bedrohlichen politischen Lage Europas, die gemeinsame Sorge um die Zukunft Deutschlands" immer eng mit "der Frage nach der Aufga-be der Philosophie" verknüpft.

Die "natürliche Welt" oder "Le-benswelt" dabei als wichtiges phi-losophisches Problem zu sehen, hatte Patocka kurz zuvor in Freiburg gelernt von seinem mährischen Landsmann Edmund Husserl, dem Begründer der Phänomenologie, und dessen berühmtestem Schüler Martin Heidegger. Eine angemessene Wirkung und Verbreitung der so erwachsenen Schrift wurde al-lerdings durch die politischen Ver-hältnisse immer wieder verhindert. 1936 war sie fast gleichzeitig mit Husserls bekanntem "Krisis"-Auf-satz publiziert worden. Die Schließung der tschechischen Universität von 1939 bis 1944 und der spätere Ausschluß Patodkas nach wenigen Jahren Lehrtätigkeit ab 1949 ließen sie vergessen. Im "Prager Frühling" 1968 endlich zum Ordinarius berufen, konnte er jedoch für eine Neuausgabe 1970 mit umfassendem selbstkritischem Nachwort sorgen, bevor er noch einmal "von der Geschichte eingeholt" wurde: Nur 300 der 2.200 gedruckten Exemplare kamen erheblich verspätet 1972 zur Auslieferung. 1976 gelang trotzdem eine französische Ausgabe mit weiterem Nachwort des Autors. All diese zusätzlichen Texte dokumentieren im vorliegenden Band anschaulich einen phänome-nologischen Gedankenweg in steter Auf arbeitung und Selbstkorrektur über vier Jahrzehnte hinweg. Der unerläßlichen Zeitanalyse wird so gründliche Methodenreflexion beispielhaft hinzugefügt.

JAN PATOCKA. Ehe natürliche Welt als phi-losophisches Problem. Herausgegeben von Klaus Nellen und Jifi Nönec. Übersetzung von Eliska und Ralph Melville. Klett-Cotta-Verlag, Stutt-gart 1990.319 Seiten, öS 764,-.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung