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Geschichte ist Gegenwart
In seinem Vorwort bezeichnet Friedrich Heer sein Buch selbst als eine Art Testament, weil er sich in ihm zu einigen Fragen äußerte, die ihn Tag und Nacht bewegten. Wenn es wirklich des Rats von Freunden bedurfte, ihn zu ermuntern, einmal seine „eigensten Gedanken“ ohne Bindung an ein spezielles historis- sches Thema zu äußern, dann war es ein guter Rat. Denn was dabei herauskam, ist „Heer at his very best“: Alles ist da, was an Friedrich Heer schon immer fasziniert oder auch irritiert hat: die Fülle der Assoziationen und direkten und indirekten Zitierungen quer durch die Ge schichte, die drängende Subjektivität des Engagements, die seismogra- phisch reagierende intellektuelle und emotionale Phantasie, die barock schmerzliche und innige Zuneigung zu allem, was wirklich lebendig war und ist. Zugleich natürlich auch der Hang, zuweilen Verben und Adjektive so zu häufen, daß dem Leser der
Rat gegeben werden sollte: Lest ein Buch von Heer, vor allem auch dieses Buch, nicht in eipem Stück durch!
Ich weiß nicht, ob der Titel vom Verlag oder vom Autor konzipiert wurde: falsch ist er nicht. Denn zwischen Heer und einem Teil der unruhigen Jugend von heute existiert, auch wenn viele von Ihnen es vielleicht nicht erkennen, wirklich eine innere Beziehung: die Sehnsucht nach einem Leben, Fühlen und Denken und Handeln, das übereinstimmt mit ihren wirklichen Träumen und Werten.
In ständiger Auseinandersetzung mit Gegenwartsphänomenen und Ideologien verifiziert Heer seine Überzeugung: „Geschichte ist Gegenwart, Gegenwart ist Geschichte.“ So ist zugleich eine Art geistige und seelische Autobiographie des Autors entstanden — faszinierend in der immer wieder neu überraschenden Vielfalt der Aspekte —, wie auch eine weitgespannte kulturkritische Auseinandersetzung mit den geistigen, politischen, sozialen und emotionalen Lebensbedingungen in der Gegenwart.
Heers Buch erweist sich als eine wahre Fundgrube von Einsichten und genauen Beobachtungen. Deswegen ist es eines der interessantesten Bücher, die ich in den letzten Jahren zu Gesicht bekommen habe. Es reizt zu Zustimmung und Widerspruch, immer aber zu eigenem Nachdenken. Und es macht, ganz beiläufig, deutlich, welchen Reichtum an Einsicht wir in der geistigen Geschichte des „Abendlandes“ finden könnten, wenn wir so unersättliche und produktiv rezipierende Leser wären wie Friedrich Heer. Ich weiß schon: dies ist ein Buch, in das ich immer wieder hineinsehen werde.
JUGEND ZWISCHEN HASS UND HOFFNUNG von Friedrich Heer. Bechtle-Verlag, München 1971. 266 Seiten, brosch. DM 14.80.
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