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Ein geistiges Niemandsland?

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„Die Heute-Gesellschaft der Leute in der Bundesrepublik Deutschland bildet keine Nation, besitzt kein Geistesleben, kein spirituelles Leben, keine Kultur - sie besitzt keine politische Hygiene, keine geistige Hygiene, sie lebt taktlos und kontaktlos ein ungepflegtes, rauhes, rohes, rüdes Eintagsleben.“ Ein schwerer Angriff, eine Zerstörung, die der österreichische Kulturphilosoph Friedrich Heer in seinem Buch „Warum gibt es kein Geistesleben in Deutschland?“ unternimmt.

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„Die Heute-Gesellschaft der Leute in der Bundesrepublik Deutschland bildet keine Nation, besitzt kein Geistesleben, kein spirituelles Leben, keine Kultur - sie besitzt keine politische Hygiene, keine geistige Hygiene, sie lebt taktlos und kontaktlos ein ungepflegtes, rauhes, rohes, rüdes Eintagsleben.“ Ein schwerer Angriff, eine Zerstörung, die der österreichische Kulturphilosoph Friedrich Heer in seinem Buch „Warum gibt es kein Geistesleben in Deutschland?“ unternimmt.

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Stünden diese Zeilen isoliert da, müßte man dem Schreiber Oberflächlichkeit und Arroganz vorwerfen. Friedrich Heer aber hat Material gesammelt, Fakten zusammengestellt, ein immenses Wissen über Kultur- und Geistesgeschichte in einem Buch konzentriert, das er als Provokation, als Analyse des „scheinbaren Geisteslebens“ in der Bundesrepublik versteht. Ein polemisches Buch, das fasziniert, jenen Geist ausstrahlt, den der Autor in der „Gesellschaft in der Bundesrepublik heute“ so sehr vermißt. Freilich auch ein riesiges Bad, mit dem der österreichische Sprachgigant den kleinen deutschen Michel da ausgießt, trüb vom Schaum glänzender Formulierungen, so daß Kindchens Dimensionen kaum mehr erkennbar sind.

„Es gibt keine größere Sünde als die, sich der Erinnerung zu verwehren“: ein bezeichnender Satz. Heer sieht in der Verdrängung von Geschichte, in der Verdrängung von historischen und politischen Erfahrungen die Gründe für die geistige Misere in Deutschland, wobei er die DDR, die „Spießgemeinschaft deutscher Spießbürger“, nicht ausnimmt. „Demokratie lebt nur dort lebendig, wo sie ihre eigenen Niederlagen nicht vergißt“. Die Deutschen haben vergessen, haben die „großen Geister vergessen“. „Goethe war ein Zwischenfall ohne Nachwirkungen.“ Die Deutschen haben auch den verdrängt, der den Prozeß der Verdrängung als erster bewußt formuliert hat: Sigmund Freud.

Heer kratzt am verkrusteten Selbstverständnis der Deutschen, entlarvt deren „Arroganz“. „Woran halten sich die Leute in der Heute-GeseÜschaft? Ein sicherer Halt scheint gegeben. Die Deutsche Mark.“ Deutschland, die Inkarnation des Wirtschaftswunders, Deutschland, das wie kein anderes Land einen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt hat, einen Aufschwung allerdings, der - Heer wird nicht müde, es immer wieder festzustellen - mit einem geistigen Verfall einherging.

Die Wurzeln dieses geistigen und kulturellen Verfalles liegen nach Heer schon im deutschen Konservativismus des 19. Jahrhunderts, oder vielleicht noch früher, in der alles zerstörenden Gegenreformation. So bleibt die Deutsche Mark der einzige Halt für eine da-hindämmernde Gesellschaft, die ihre faschistische Vergangenheit nicht überwunden, sondern beiseitegeschoben hat. „Eine geschlossene Gesellschaft des Nichtmiteinanderspre-chenkönnens, des Nichtmiteinander-sprechenwollens.“ Die deutsche Gesellschaft präsentiert sich so als entfremdetes Konstrukt, in dem die Warencharakteristik dominiert, der Geist Ware ist, die man über Bord werfen kann, Erkenntnisse Ware sind. Die deutsche Kulturlandschaft ist eine Marktlandschaft, in der nach Angebot und Nachfrage gehandelt wird. Hinter dieser Marktfassade hegt das „Deutsche Niemandsland“, die Armut des deutschen Geistes: „Verleger, Kritiker, Kulturmanager sind stolz darauf, sich mit je ihrem Niemandsland zu umgeben.“

Heer rechnet scharf ab mit der Kulturindustrie, in der Modernismen entfacht werden, in der aber Autoren nicht publizieren dürfen, weü sie gerade nicht „in“ sind oder nicht „in“ sein, sollen. Das Informationsbedürfnis ist einem Konsumationsbedürmis gewichen, das zweitklassige Zeitungen in Deutschland kräftig unterstützen, indem sie „Kommunikation unterbinden“.

Die deutsche Kunst und Literatur sind nach Heer arm, leer, modernistisch, von Kulturmanagern hochgeputscht. Eine Literatur der „schlechten Montagen“. Qualitätskriterien gibt es keine. Heer zieht Vergleiche mit europäischen Nationalliteraturen, beschreibt die Auseinandersetzung von der Gegenreformation über die deutsche Aufklärung bis zum heutigen Konservativismus, der rechts und links gleichermaßen zu orten ist. Die deutsche Linke ist nach Heer von der selben Armut an Geist wie die deutsche Rechte gebrandmarkt, wie die gesamten bürgerlichen Bewegungen des 19. Jahrhunderts. Mißtrauen und Un-kreativität hier wie dort, „Berührungsangst“ nennt Friedrich Heer dieses Phänomen. Der Faschismus ist kein abgeschlossenes historisches Ereignis, seine Wurzeln finden sich schon vor den dreißiger Jahren, seine Auswirkungen sind heute noch latent in uns.

„Die Heute-Gesellschaft der Leute in der Bundesrepublik ist eine extrem traditionalistische Gesellschaft, traditionalistisch ist auch ihr Glaube an die reine Wissenschaft, ihr Bedürfnis nach Autorität, nach Orthodoxie.“ „Die deutsche Wissenschaft“, so Heer, „ist eine Geschichte von Ketzern, Einsamen und Einzelnen.“ Deshalb müßte, müsse man „das Abschlachten von Ketzern und Außenseitern im Großdeutschen Reich“ erforschen. Mit dem Großdeutschen Reich meint Heer keineswegs nur Nazideutschland. Der Mythos der reinen Wissenschaft entstand schon in der bürgerlichen Aufklärung, als sich der Bürger spaltete in private und öffentliche Existenz. Die reine Wissenschaft - Zeichen eines gefährlichen, autoritären Konservativismus, der jede Kreativität und Ge-sellschaftsbezogenheit verunmög-licht. Heer vergleicht die deutsche Wissenschaftstradition im zwanzigsten Jahrhundert mit der Frankreichs und Englands, konstatiert Agilität und Brisanz dort und Leere bei uns. „Alte, immobile Männer stehen an der Spitze des deutschen Staates und sind

.schuld' an der Misere.“ Er führt auch den berühmten Spruch von Altbundeskanzler Erhard an, der Intellektuelle als „Pintscher“ bezeichnet, mit denen er nicht reden will.

Ein aggressives Buch, das eine Fülle von Material vorlegt, Tatsachen korrigiert, das deutsche Geistesleben nicht schöngeistig untersucht, analysiert, sondern engagiert, kritisch, polemisch. Mit Geschichtsbewußtsein. Mit genauer Kenntnis der politischen Bezüge. Heer nimmt Stellung, ohne sich auf die Seite irgendeiner Ideologie zu schlagen. Er drückt sein Unbehagen, seinen Zorn über die „deutsche Arroganz“ aus. Das ist ein legitimes Ansinnen. Heer bezieht auch die wirtschaftlichen Verhältnisse ein, wo sie Kreativität und die Entwicklung des Geistes hemmen. Und er schließt das Buch mit einem Plädoyer. „Geist ist radikal. Geist ist nur im Wandel zu fassen, in ständiger Bewegung, in Ergriffenheit. ... Es ist Zeit, diesen Menschen die Wahrheit immer wieder ins Gesicht zu sagen. Nicht nur, nicht erst nach der Katastrophe. Die deutschen Geistgenossen, die Weimar verachtet, die zu Hitler nichts Rechtes zu sagen hatten, waren nicht vorbereitet auf den Ausbruch des Friedens. Sind sie dies heute?“

Ein bedeutendes Buch also. Eines, dessen Thesen gelesen, verarbeitet, diskutiert werden müssen. Eines, dessen Autor mit seiner sehr einseitig, sehr selbstgerecht, sehr pauschal vorgebrachten, herausgesprudelten Philippika durch eine Kritik, die sich in den Schwächen des Buches festbeißt, sich auf diese Weise davor drückt, sich seiner Substanz zu stellen, ebenso bestätigt würde wie durch eine, die ihm unverbindlich auf die Schulter klopft und zur Tagesordnung übergeht.

Stellt sich Deutschland, wird es an diesem Buch hart zu kauen haben. Wobei es - nur eine - Folge der schrecklichen Verallgemeinerungen und Vereinfachungen dieses Pamphletes ist, daß der Leser niemals genau erfährt, was und wieviel von all dem, das Heer Deutschland vorwirft, nun wirklich noch spezifisch deutsch ist. Der nichtdeutsche Leser darf sich über Deutschland erhaben fühlen oder es bemitleiden. Auch der österreichische und gerade der hat für ein solches Uberlegenheitsgefühl wenig Grund. Denn wir hatten ein Geistesleben. Aber haben wir eines?

WARUM GIBT ES KEIN GEISTESLEBEN IN DEUTSCHLAND? Von Friedrich Heer, List Verlag, München 1978, 296 Seiten, öS 169,40.

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