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Nachtrag zum 90. Geburtstag von Friedrich Heer: Eine kritische Würdigung und ein Plädoyer für ein neues Gespräch der Feinde von Thomas Macho.

Es fällt mir nicht leicht, über Friedrich Heer zu schreiben: den Kulturhistoriker, den Humanisten, den Essayisten und christlichen Philosophen. Sein Name ist mir vertraut seit früher Kindheit; das "Gespräch der Feinde" (1949) wurde in gewisser Hinsicht auch in meinem Elternhaus geführt. Der Austausch zwischen Christen und Sozialisten bildete - im ersten Jahrzehnt nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs - einen Horizont gemeinsamer sozialer, politischer oder publizistischer Aktivitäten, an denen engagierte Christen (wie mein Vater, der 1949 die sos-Gemeinschaft begründete) ebenso teilnahmen wie der ehemalige Mitschüler Heers und spätere Justizminister Christian Broda.

Nach 1955 wurde die Erfahrung der Kooperation und des Dialogs zwischen den weltanschaulichen Lagern in eine Art von Gründungslegende der Zweiten Republik - ideologischer Grundstein mancher großen Koalitionen - transformiert; leider fungierte sie manchmal auch als Beitrag zur Verleugnung der spezifisch österreichischen Vorgeschichte des Nationalsozialismus (einschließlich des Bürgerkriegs von 1934). Darum war es ein bedeutendes Verdienst Friedrich Heers, nicht nur das Gespräch zwischen Christentum und Marxismus - gegen die ersten Frontbildungen des Kalten Kriegs - gefördert zu haben, sondern auch die Erinnerung an die Geschichte des österreichischen Antisemitismus und seiner katholischen Wurzeln.

Plädoyer für Schirach

Natürlich ließe sich einwenden, Heer habe seine großen Bücher "Gottes erste Liebe" und "Der Glaube des Adolf Hitler" erst 1967 und 1968 publiziert, während er beispielsweise noch am 15. August 1959 in der Furche entschieden für eine Begnadigung des ns-Gauleiters Baldur von Schirach plädierte: "Schirach war auf seine Art ein Romantiker, ein ,ewiger Jüngling', auch noch als ,Reichstatthalter' ein Träumer."

Doch schon am 20. Februar 1960 geißelte er im "Brief an einen nationalen Freund" (ebenfalls in der Furche) die "Doppelzüngigkeit" von Parteien, die bei ihren internen Treffen und Feiern die "Sprache der Vergangenheit" aufleben lassen: "ein Bekenntnis zu den Großtaten des Dritten Reiches, zu den Tagen ,unserer Helden', zu Ritterkreuz (mit und ohne Haken)", während in der Öffentlichkeit von Europa, dem Abendland und der Notwendigkeit einer Verteidigung der Freiheit geredet werde.

Diese kritische Grenzziehung war um so wichtiger, als die Frage nach Europa, seiner Zukunft und Geschichte - wie kaum ein anderes Thema - das Zentrum zahlreicher Werke Heers bildete: von "Aufgang Europas" (1949) über "Das Experiment Europa" (1952), "Europäische Geistesgeschichte" (1953) bis zu "Europa, Mutter der Revolutionen" (1964) oder "Europa unser" (1977). In der Begleitung europäischer Integrationsprozesse erblickte Heer die wichtigste Chance der Zweiten Republik.

"Die österreichische Chance": So lautete auch die Überschrift eines Artikels, den Heer am 21. Mai 1955 - zum Abschluss des österreichischen Staatsvertrags - in der Furche publizierte. Dieser programmatische Text begann mit einer Erinnerung an Salvador de Madariagas Forderung, "die Hauptstadt des künftigen Europa müsse Wien sein"; denn "kein Ort dieses Kontinents sei so vorbestimmt und so geeignet als Mittelpunkt, weil Mittler für die sehr verschiedenartigen Elemente Europas, wie Wien, in Österreich".

Freilich habe diese Vision keine echte Resonanz in Österreich gefunden, wie Heer konstatiert; "man wagte hier nicht recht, an Österreichs Aufgabe in Europa und für Europa zu glauben. Trotz aller Lippenbekenntnisse vermochte man sich nicht aus dem Bann des Schocks von 1918 zu lösen. 1938 wurde auch deshalb möglich, weil sowohl die führenden politischen Kreise, Parteien, wie auch die führenden Männer an Österreichs hohen Schulen kleinösterreichisch, kleineuropäisch, kleindeutsch (gerade auch als ,Großdeutsche') dachten: so wurde Österreich als ein ,Kleinstaat' gedacht, der diesem oder jenem ,Anschluß' verfallen mußte, weil die österreichische, die europäische Lösung gar nicht mehr zu denken gewagt, geschweige denn als Erziehungsprogramm in den Schulen oder als politische Konzeption vertreten wurde." Folgerichtig, so resümiert Heer, "wurde Österreich zur Provinz".

Idealisierung Altösterreichs

Den österreichischen Beitrag zu einem künftigen Europa hat Heer allerdings nach alten Vorbildern ausgemalt. In tiefer Sympathie mit Kaiserin Maria Theresia, die er in seinem historischen Roman "Das Glück der Maria Theresia" (von 1966) als mütterliche Herrscherin der preußisch-patriarchalen Monarchie gegenüberstellte, neigte Heer zur Idealisierung des altösterreichischen Reichs. In einem Vortrag über "Österreichs Beitrag zum Bildungsstand Europas", der kürzlich erst (im zweiten Band der neuen Werkausgabe) publiziert wurde, betonte Heer, das barocke Altösterreich habe als "pädagogische Provinz der Menschenbildung" im Sinne Goethes gewirkt, "als eine Erziehungsgemeinschaft und Bildungsgemeinschaft von mindestens zwölf Völkern", die "nie den Bruch, nie die Spaltung - die es doch gab und gibt, akzeptiert hat: zwischen Ost und West, in Europa zwischen Nord und Süd auch. Orient und Okzident, hier wurden sie früh zusammengedacht, zusammengefügt." Auch wenn es gegenwärtig gute Gründe gibt, an solche Visionen zu erinnern, klingen sie doch zu schön, um wirklich für wahr gehalten werden zu können: "Wien war, in der größten universalen Bildungsgemeinschaft Alteuropas (nach der Gotik), im Barock, sowohl eine Hauptstadt der Romania, mit seinen spanischen und italienischen Bildungselementen, als auch die Hauptstadt der Bildung Osteuropas: Griechen und Türken waren hier zu Hause."

Friedrich Heers 90. Geburtstag - am 10. April 2006 - fällt in eine Zeit, die des Gesprächs der Feinde nicht weniger dringend bedarf als das vergangene Jahrhundert. Der Frieden sei für ihn ein "Leben in Konflikten", bekannte der Historiker (und spätere Chefdramaturg des Burgtheaters), der sein Studium 1934 - im Jahr des Bürgerkriegs - aufgenommen hatte, um 1938 - im Jahr des Hitler-Einmarsches - zu promovieren. Gleich nach der Besetzung Österreichs wurde Heer von den österreichischen Nationalsozialisten inhaftiert; 1940 wurde er in den Krieg geschickt, was ihm vielleicht das Leben rettete (wie er gelegentlich bemerkte).

"Ein Leben in Konflikten": In einer polemischen Kritik an der Friedensbewegung, die 1983 - im Todesjahr Heers und zugleich in einem Jahr grassierender Ängste vor dem Dritten Weltkrieg - publiziert wurde, betonte Heer: "Nur konfliktreiche, konfliktstarke, also ihrer eigenen Konflikte bewußte Menschen sind fähig zur Freude, es mit ganz anderen immer wieder neu aufzunehmen, und fähig die Berührungsängste zu überwinden, um möglichst hautnah an einen Gegner, den sogenannten Feind, heranzurücken. Das war der stille Hintergrund schon meines Buches ,Gespräch der Feinde' von 1948 und dann ,Begegnungen mit dem Feinde', 1955. Dies Motiv durchtönt mein ganzes Lebenswerk, mit vielen Schmerzen."

Heute sind es die Gespräche zwischen den Weltreligionen, die dringend geführt werden müssen; auch zu diesen Gesprächen hatte der entschiedene Parteigänger des Zweiten Vatikanischen Konzils häufig aufgerufen. Als Wissenschaftler war Heer seelenverwandt mit dem bedeutenden niederländischen Kulturhistoriker Johan Huizinga.

Radikaler Optimismus

Er pflegte einen ähnlichen, oft blumigen und metaphorisch reichen Stil; und wie der Autor von "Herbst des Mittelalters" war er stets interessiert an den "Schwellenzeiten", in denen sich eine neue Epoche bereits ankündigt. Mit Huizinga verband ihn die Bereitschaft zum Widerstand gegen das ns-Regime; auch Huizinga wurde - kurz nach der Besetzung seines Landes - von den Nationalsozialisten in Haft genommen. Wie Huizinga sympathisierte Heer mit einer mütterlichen Monarchie (die in Holland ja niemals vergangen ist). Gerade die späten, wenig bekannten Schriften Huizingas (der kurz vor Kriegsende starb) - "Im Schatten von morgen" (1936) oder "Geschändete Welt" (1943) - artikulieren Positionen, die Heer wohl geteilt hätte, etwa die Kritik an Oswald Spengler und Carl Schmitt, obendrein unter Berufung auf Argumente des Augustinus. Und hätte Heer nicht auch den Antiheroismus und Internationalismus Huizingas - dessen Polemik gegen die "Garderobe des Nibelungenlieds" - ebenso bejaht wie den radikalen, kontrafaktischen Optimismus des Holländers?

Der Autor, geb. 1952 in Wien, ist Professor für Kulturgeschichte an der Humboldt-Universität Berlin. Macho war als Referent des Symposiums "Die geistige Welt des Friedrich Heer", das die arge Friedrich Heer und die Österreichische Forschungsgemeinschaft Ende März in Wien veranstalteten, vorgesehen, musste seine Teilnahme aber krankheitshalber absagen. Auf Einladung der Furche verfasste er dennoch einen Text zum Thema.

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