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Die Tragödie des Heiligen Reiches

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Friedrich Heer, Privatdozent für Geistes-geschidite an der Wiener Universität und Redakteur der »Österreichischen Furche“, hat sich durch sein großes Werk „Aufgang Europas“ als ein Kenner und Deuter der mittelalterlichen Geschichte beglaubigt, dem es darum geht, die Wurzeln der heutigen europäischen Situation Tinter den sie verschüttenden Schichten der zwischen dem Beginn der Neuzeit und unserer Gegenwart aufgehäuften Söiuttmassen aufzuspüren. Er sieht mit Recht die jetzige Lage Deutschlands Und sein Verhältnis zum Westen, zum Süden unseres Kontinents vorbeding durch die historische Entwicklung seit dem Altertum. Als Tragödie des Heiligen Reiches, das von Karl dem Großen begründet, von Otto dem Großen erneuert und zu einer über acht Jahrhunderte währenden politischen Konstante gemacht wurde, betrachtet der Autor das Mißlingen des Strebens, diese Ordnung gegen die ihr widerstreitenden Tendenzen Westeuropas zu behaupten. Heer schildert die Eckpfeiler des hochragenden Baus, auf den dieser gründete: die „Reichsbischöfe“, also jene edel-freien Herren, die als Kirchenfürsten geistliche Gewalt und als politisch-wirtschaftlidi Bevorzugte entscheidende weltliche Macht in sich vereinten, dabei die Förderer und Hüter der geistigen, vielfach auch der materiellen Kultur Mitteleuropas waren; Friedrich I. Barbarossa als den Kaiser, der jenem Reich der am meisten gemäße Herrscher war und in dem sich die staufische Einheit des Priester-Königstums verleibte; dann die uralte germanisch-indoeuropäische Vorstellung von der zeitenlosen Sende des adeligen, einst als gottentquollen betrachteten, später als besonders gottgesegnet verehrten Blutes.

Diesen Konzeptionen tritt die mehr diesseitige Lebensdeutung des westlichen Bürgertums und die ihm über alle Gegensätze hinweg verbündete des im Prinzip rein jenseitigen, faktisch aber nach der Alleinherrschaft begehrenden — aller heidnischen Spuren ledigen — kirchlichen, Denkens gegenüber. Heer unterstreicht vielleidit zu wenig die wirtschaftlichen und die biologisch-genealogischen Voraussetzungen, denen der Gegenstoß des Westens und des Südens seinen Sieg über die nordisch-germanischen Anschauungen dankt. Jene Bewegung, die im weitesten Sinn als demokratisch zu bezeichnen ist und die ^xfi ebensowohl im päpstlichen Kampf gegen die Adelsmonopole wit im Invesliturstreit bekundete, hat zugleich ursächlichen Zusammenhang mit der „Entnordung“ der herrschenden Schichten Frankreichs und Italiens, mit dem Aufkommen des Frühkapitalismus, der schnell dem Feudalagrarsystem über den Kopf wächst. Wir hätten gern bei Heer den ausdrücklichen Hinweis daiauf gefunden, daß gerade an der von ihm zutreffend erkannten Schicksalswende Deutschland und die anderen Gebiete des einstigen Karolingerreiches sich zu unterscheiden begannen, daß in Mitte 1-

europa noch immer die edle Geburt von seit undenklicher Vorzeit freien Ahnen der männlichen und der weiblichen Linie den alleinigen Anspruch zur Herrschaft, auch in geistlichen Würden sidiert. In Frankreich und in Italien dringt dagegen die antike Auffassung wieder durch, daß Bildung, Amt, persönliches Verdienst und schließlich Reichtum an beweglichem Gut zunächst ebensoviel bedeuten wie hohe Abkunft und der damit verknüpfte Grundbesitz, später, daß erlauchte Abstammung nur zu jener Stellung befugt, die der Engländer heute „dignified“ nennt, und daß Amt, Bildung, Reichtum den Weg zu den „efficient“ heißbaren Posten ebnen. Dies wäre so ziemlich der einzige Vorbehalt, den wir zur geistreichen und sbo.'fsatten Darstellung des Verfassers anzumelden hätten. Im übrigen ist sein Budi prall von neuen und klugen Einsichten. Sie gipfeln in dem meisterhaften Panorama der spätstaufisthen Kultur im Umbruch. Dieses vollendet sich in dem großartig-tiefen Ausklang, der das gottkaiserliche Heilsreich den Weg von der Märe zur Chimäre schreiten läßt. Worauf sich eine neue Idee-Force Macht über die in ihrer biologischen Substanz veränderte, wirtschaftlich umgruppierte und andere erzogene Leit-schicht der europäischen Menschheit erringt, „das Innenreich des Bürgertums, der Spiritualität und Humanität... der Civitas humana der abendländischen Völker“. Allerdings geben sich die scheinbar überwundenen Gegenkräfte nicht geschlagen. Die gottkaiserliche Heilsidee des über alle „Reguli“ gebietenden Reiches der Mitte feierte eine unfröhliche Urständ, deren wir uns. alle schaudernd entsinnen. Und die Civitas humana wird nicht nur von den chthonischen Dämonen des eigenen Raumes bedroht, sondern auch — wie schon das christliche Abendland des Mittelalters, das für eine Spanne Zeit, unter der Ägide großer Päpste, Wirklichkeit zu werden schien — von einem Feind aus fremdem, benachbartem östlichem Raum.

Wir möchten von Heers bedeutender jüngsten Schrift nicht Abschied nehmen, ohne ihrer formalen Vorzüge zu gedenken. Sie übertrifft ähnliche Geschichtsbetrachtungen sehr, die entweder im lauen Wasser träger Professorensprachflüsse fortplätschern oder sich in aufgeregten Kaskaden giftig springender Literatenkaskaden verspritzen. Nur eine Unart hat Heer noch nicht abgelegt, den Hang, mit Präpositionen, mit Vorsilben zusammengesetzte Worte durch den Bindestrich in ihre Bestandteile zu zerlegen und dabei sprach-entlarverische Wortmagie zu betreiben. Ertrage das, wer über derlei Gegen-sätze keine Ent-täuschung empfindet. Idi finde sie einen Un-fug, den sich ein so aus-gezeichneter Schrift-steller ab-gewöhnen sollte. Nichts für un-gut! Das Buch Heers bleibt trotzdem gut, sehr gut. Und es ist der weitesten Beachtung würdig.

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