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Platzpatronen zum Geburtstag

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Der Aktionsradius der eigenwirtschaftlichen Betätigung der öffentlichen Hand (Bund, Länder und Gemeinden) reicht in Österreich in nahezu alle Sektoren der Wirtschaft. So sind in Österreich unter anderem folgende Sektoren fast vollständig sozialisiert: der Bergbau, die Eisen-, Stahl- und Metallproduktion; die Erzeugung und der Vertrieb von Salz und Tabakwaren; der Personen- und Güterverkehr auf Schienen, zu Wasser und in der Luft sowie der innerstädtische Massentransport; das buchmäßig ausgewiesene Reinvermögen der Aktienbanken; die als Kapitalgesellschaften organisierten Wohnungsunternehmen… Selbst ein Teil des Medikamentenhandels, den Vizekanzler Häuser gerne vergesellschaftet haben will, wird vom Bund kontrolliert: die Alte Hofapotheke, die Schönbrunner Schloßapotheke und die Bundesapotheke „Zur Mariahilf“. Nicht zuletzt aber ist auch das österreichische Versicherungswesen eine Domäne der öffentlichen Hand. Die Brandschadens-Versicherungsanstalten in allen Bundesländern, die Bundesländerversicherung und schließlich der von der Gemeinde Wien kontrollierte Konzern der Wiener Städtischen Versicherung mit allen Beteiligungen an anderen in- und ausländischen Versicherungsanstalten.

Die wirtschafts- und sozialpolitischen Beweggründe, die im Rahmen einer evolutionären Entwicklung in Österreich zu einem im Vergleich mit anderen grundsätzlich marktwirtschaftlich organisierten Industriestaaten sehr hohen Anteil der öffentlichen Hand an der Entstehung des Bruttosozialproduktes geführt haben, stehen heute längst nicht mehr zur Diskussion. Die verstaatlichten Betriebe werden heute, je nachdem, welche ideologische Position gerade vertreten wird, mit mehr oder weniger großer Genugtuung als Teil einer gemischten Wirtschaftsordnung akzeptiert. Festzustellen ist freilich, daß ursprünglich nicht allen Sozialisierungsvorhaben ideologische Motive zugrunde lagen. So erwähnen beispielsweise die Verstaatlichungsgesetze aus dem Jahre 1946 keine ideologischen Zielvorstellungen. Dazu kam es erst im Laufe der Nachkriegsentwicklung, als insbesondere die beiden SPÖ-Funktionäre Waldbrunner und Pittermann die Sozialisierung der heimischen Wirtschaft als ökonomische Endlösung postulieren. In diesem Zusammenhang ordnete Dr. Pittermann 1962 als Chef der Sektion IV im Bundeskanzleramt der Verstaatlichten Industrie die Aufgabe zu, als wirtschaftspolitisches Instrument der Bundesregierung ohne jede Bedacht- nahme auf privatwirtschaftliche Grundsätze zu fungieren. Immer wieder redeten Waldbrunner und Pittermann einer tiefgreifenden Sozialisierung weiter Bereiche der heimischen Wirtschaft das Wort und wann immer das in Wahlkämpfen geschah, erlebte die SPÖ an Wahltagen ein Waterloo. Vor allem aus emotionellen Gründen scheint die österreichische Bevölkerung an einer weiteren Vergesellschaftung von Produktion und Distribution uninteressiert. Daran mußten diesbezügliche Forderungen sozialistischer Funktionäre wohl oder übel scheitern.

„Rotstich“ der Marktwirtschaft

Dennoch sah sich Vizekanzler Häuser genötigt, mit radikalen Forderungen die Verstaatlichungsdiskussion wieder anzufachen. Dies geschah sicherlich für die Verstaatlichte Industrie und wahrscheinlich auch für die Wahlchancen der Sozialistischen Partei zur Unzeit. Gerade die Verstaatlichte Industrie war durch die permanente und allzuoft bar jeder ökonomischen Sachkenntnis geführte öffentliche Diskussion über den Sinn und Unsinn ihrer Existenz und ihrer Förderung in ihrer kontinuierlichen Entwicklung äußerst bedroht. Als die ÖVP während ihrer Alleinregierungszeit mit dem Phänomen der Verstaatlichten Industrie unmittelbar konfrontiert wurde, sich zu einem vernünftigen Bekenntnis zu diesem Bereich unserer gemischten Wirtschaftsordnung letztlich durchgerungen hat und sodann insbesondere mit dem ÖIAG-Gesetz die Stärkung des verstaatlichten Sektors nicht im Sinne der Erhaltung bestehender Produktionsstrukturen, sondern Stärkung durch Umstellung auf neue Produktionen und Anpassung an veränderte Marktkonstellationen herbeiführte und überdies noch einer besseren Kapitalausstattung dieses Sektors das Wort redete, geriet die Verstaatlichte Industrie in eine günstigere Entwicklung, auf die erst jüngst im Rahmen von Reden zu ihrem 25. Geburtstag von allen politischen’ Seiten hingewiesen wurde. Die Verstaatlichte Industrie zuletzt konnte also keine Freude an den Forderungen Häusers haben. Und erst recht nicht Kreiskys SPÖ, deren wirtschaftliche Hauptakteure darauf zählen, daß der Vergesellschaftungs prozeß nicht revolutionär, sondern evolutionär, doch dafür um so einschneidender, verlaufen wird. Daß diese Rechnung stimmen kann, dafür spricht unter anderem der steigende Anteil der öffentlichen Haushalte an der Entstehung des Bruttosozialproduktes und die Bildung immer größerer Konzerne im Rahmen eines Konzentrationsprozesses auch in der österreichischen Wirtschaft. Erst jüngst wurde von kompetenter Stelle darauf hingewiesen, daß das Leitbild der sozialen Marktwirtschaft mehr und mehr „rotstichig“ wird und daß die Gefahr droht, daß die Grenze von der sozialen zur sozialistischen Marktwirtschaft überschritten wird.

Wenn es stimmt, wie schon behauptet wurde, daß Häuser seine radikale Forderung nicht zuletzt deshalb erhob, um die augenblickliche doktrinäre Unruhe in der SPÖ und im Gewerkschaftsbund für sich zu nützen, dann muß auch der ÖGB- Präsident Benya ein wenig bangen.

Wie es in Gewerkschaftskreisen heißt, wird von immer mehr und größeren Gruppen im Gewerkschaftsbund Benya seine Befürwor- wortung einer SPÖ-FPÖ-Koalition sehr übelgenommen; darüber hinaus meint man, Benya übertreibe ein wenig die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit den Arbeitgeberver- verbänden. Es wäre immerhin möglich, daß der in der sozialistischen Minderheitsregierung so überaus erfolglose Häuser versucht, im Gewerkschaftsbund, dessen Vizepräsident er ist, die Stimmung anzuheizen, um dort seine Position zu stärken. Sollte dies der Fall sein, dann geben Häusers radikale Forderungen nicht nur eine Krise in der Regierung und in der Sozialistischen Partei, sondern vor allem im Gewerkschaftsbund wider.

Wahrscheinlich ist es selbst für sehr geübte Beobachter und Beschreiber der sozialistischen Partei- und Gewerkschaftsszenerie schwierig, zu erklären, warum ausgerechnet zehn Tage vor dem Wahltag Häuser mit seiner Forderung nach stärkerer Vergesellschaftung der österreichischen Wirtschaft das Konzept Kreiskys stört oder zu stören trachtet. Sicher ist, daß Häusers Forderung, an den Grundfesten einer Demokratie, in der die politische und die ökonomische Macht dezentralisiert beziehungsweise diversifiziert sein müssen, rührt. Und daran dürfte selbst die Mehrheit der sozialistischen Parteimitglieder nicht interessiert sein.

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