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Psychoanalytische Insidestory

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Sie kam vor 70 Jahren auf, machte im ersten Feuereifer manchen Fauxpas, ist inzwischen etwas vorsichtiger geworden, aber nach wie vor umstritten. Sigmund Freud war um die Jahrhundertwende draufgekommen, daß der neurotische Patient auf der Couch assoziierend — mit Hilfe des Analytikers — seine Schwierigkeiten allmählich selbst auf peinlich verdrängte Regungen der frühen Kindheit zurückzuführen vermag. Der Einwand gegen das Unterfangen, diese Methode ohne persönliche Anwesenheit eines Analysanden auf Dichtungen, Tagebücher oder Briefe großer Künstler anzuwenden, ist kaum zu widerlegen. Ein Proband kann jederzeit weiterbefragt und weitergeführt werden, was meistens etliche Jahre dauert, bis sein Kernproblem erreicht wird; beim Deuten fixierter Aussagen (eines in der Regel längst Verstorbenen) ist das unmöglich. Sie stellen, analytisch gesehen, einen Torso dar, vieldeutig, und es assoziiert, das Fehlende gewagt ergänzend, natürlich nicht der Verewigte, sondern der Analytiker. Das Ergebnis sagt daher mehr über diesen aus, als über den Künstler und seine Kunst. Übrigens liegt das Zugeständnis Freuds vor, daß die Analyse das Geheimnis künstlerischer Begabung nicht zu entschleiern vermöge.

„Der Traum bei R. M. Rilke“ von Erich Simenauer (von dem seit 1953 „Rainer Maria Rilke — Legende und Mythos“ vorliegt, ein 750-Seiten-Beispiel solcher tiefenpsychologisch praktizierter Literaturbetrachtung) darf als Beitrag zu den zwei Gedenkjahren aufgefaßt werden: 1975 mit dem hundertsten Geburtstag, 1976 mit dem fünfzigsten Todestag des Dichters.

Der Verfasser kennt das leidige Für und Wider genau, welches das Ansehen Rilkes in ein schiefes Licht bringen mußte: ideologische Bezichtigung und „hagiographische Unterwerfung“ können ihm nicht gerecht werden. Simenauer will Rilke durch psychoanalytische Aufklärung rehabilitieren, weil das „Wesen der künstlerischen Schöpfung selber“, nach seiner Ansicht, „weitgehend unter der Herrschaft des Traum-Ich steht“. Kernsatz: „Bestimmte Symbole, deren sich die Traumarbeit bedient, sind von so universaler Natur, daß sie zu einer Deutung auch dann herangezogen werden dürfen, wenn eine schulgerechte Analyse des Traums aus äußeren Gründen nicht möglich ist und auf ihre Bestätigung durch den Akt der Anerkennung von selten des Träumers verzichtet werden muß.“ Eine apodiktische Behauptung, die zur Streitfrage führt, zumal „bestimmte Symbole“ aus der Analyse von Durchschnittsmenschen gewonnen wurden, die nichts schaffen. Bei dem sowieso ungewöhnlichen, nämlich schöpferischen Menschen, könnte (dürfte) das Bewußtsein gegenüber dem Verdrängten stärker in Erscheinung treten.

Simenauer geht seriös vor und verrät gerade dadurch den Unsinn der vermeintlich tiefsinnigen Methode: An manchen Stellen konzentriert er offen, man könne sie so oder so deuten — nicht, weil sie literarisch unklar wären, aber weil die Deutungstechnik ohne die spontane Reaktion des Gedeuteten eben versagen muß. Am Ende weiß man nicht mehr, als man sich schon vorher denken konnte. Auf der letzten Seite: „Einer Aufklärung über die Symboldeutung seiner dichterischen Bilder bedürfte es demnach von einem gewissen Zeitpunkt an sicherlich nicht.“ Und: „Er wußte, daß er mehr wußte als sein Bewußtsein, und daß er weiser war als dieses.“ Behauptung im ersten Abschnitt: ,ßas System Freuds befähigt uns, ein Dichterwerk mit einem lebendigen Verständnis für seine verborgenen und ambivalenten Inhalte zu lesen.“ Was aber leider mit einem besseren Verständnis der dichterischen Leistung so gut wie nichts zu tun hat und auf dem zweifelhaften Rang einer Insidestory verharrt.

DER TRAUM BEI R. M. RILKE. Von Erich Simenauer. Verlag Paul Haupt, Bern und Stuttgart, 1976. 108 Seiten, öS 191,—.

Ein neuer Schelsky

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