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„Spektrum Austriae“ als rätselhaftes Kaleidoskop

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Der Staatssekretär a. D. und Chefredakteur der Wochenzeitung „Wirtschaft“, Karl Pisa, Autor exzellenter Bücher über Arthur Schopenhauer und Alexis de Tocqueville, gibt seinem neuen Buch den auf den ersten Blick paradoxen Titel: „Österreich - Land der begrenzten Unmöglichkeiten“.

Schon in den ersten drei Kapiteln wird uns in Erinnerung gebracht, was alles nach 1945 bei uns möglich, jenseits der Grenzen Österreichs aber unmöglich war: freie Wahlen — eine Übung, die in keinem Nachfolgestaat der Habsburgermonarchie beibehalten wurde; die Neutralität — ein Balanceakt, für den ein vereintes Deutschland zu groß und Ungarn zu klein war; die Sozialpartnerschaft - eine Erfindung, die das Streiken den Italienern und auch den Deutschen überließ.

Im zweiten Abschnitt wird — wieder in drei Kapiteln - erklärt, was nur innerhalb der Grenzen Österreichs möglich scheint: eine Republik, in der die Traditionen der Monarchie den „Habsburger-Kannibalismus“ überlebten; ein Parteienstaat, in dem die Großparteien sich das Volk zu teilen versuchten; eine Wirtschaft, in der der Staat mehr mitzureden hat, als er sich leisten kann.

Pisa überlegt dann in einem dritten Abschnitt — in weiteren drei Kapiteln -, was in Österreich in Zukunft nur begrenzt möglich sein wird: eine militärische Neutralität nach dem Vorbild und zum halben Preis der Schweiz; am

Beispiel Hainburg beschreibt er dann eine improvisierte Regierung und improvisiert mitregierende Wähler und warnt vor einer Politik des Uberlebens auf finanzielle und ökologische Kosten der Zukunft.

Im Schlußkapitel zeigt der Autor auf, was in Zukunft bei uns an Unmöglichkeiten möglich werden könnte. Hier setzt er dem berühmt-berüchtigten Wort von Karl Kraus von der „österreichischen Versuchsstation des Weltuntergangs“ sein Bild von „Österreich als Versuchsstation eines lebenswerteren Lebens“ entgegen. Wenn dem Autor auch klar ist, daß dabei keine weltbewegenden Ergebnisse zu erwarten seien, sollte es doch der Ehrgeiz Österreichs sein, diesen Modellversuch zu unternehmen.

Wenn aber Österreich als Beispiel einer solchen Neuinszenierung dienen will, dann sei ein Perspektivenwechsel notwendig; die Politik müsse gestaltend eingreifen, wenn aus Österreich nicht im 21. Jahrhundert ein „Altersheim“ werden soll, dessen alpiner Erholungsraum überbevölkert ist und dessen nordöstliche Regionen so tot sind wie seine nordöstlichen Grenzen.

Schließlich müßten auch die nicht-materiellen Ressourcen entdeckt werden, deren Mobilisierung den Staat entlasten und seine Fähigkeit zur Lösung neuer Probleme steigern kann. Es genü^ ge nicht, von „mündigen“ Bürgern zu sprechen, sie aber dort, wo etwas von ihnen gefordert werden kann, nicht zu fordern.

Notwendige Leitbilder

Um zur „Versuchsstation eines lebenswerteren Lebens“ zu werden, braucht Österreich Leitbilder, die von vornherein einen hohen Grad von Gemeinsamkeit aufweisen, um das Interesse der Bürger zu wecken.

Gibt es solche Leitbilder für unser Land? Pisa bejaht dies:

# Österreich als „Versuchsstation zur Weiterentwicklung der Demokratie“ — hier haben wir nach dem mißlungenen Experiment der Ersten Republik schon Anfangserfolge erzielen können;

• als „Versuchsstation eines ökologischen Wiederaufbaus“ als natürliche Fortsetzung des ökonomischen, der der älteren Generation als politisches Leitbild gedient hat;

• als „Versuchsstation der kulturellen Bereicherung des Lebens“, die freilich nur erreicht werden kann in einem gesicherten Freiraum, in dem sich schöpferische Kräfte entfalten können, ohne jede Form der Zwangsbeglückung.

Im beklemmenden Bedrohungsbild einer kranken Umwelt sieht Pisa Gefahr und Rettendes zugleich, da es in der Bevölkerung neue Wertvorstellungen, zumindest aber neue Wunschvorstellungen hervorgerufen habe: „Aufgabe der Politik müßte es sein, diesem Bedrohungsbild ein konsensfähiges Wunschbild gegenüberzustellen. Gleichzeitig müßte aber ein Regierungschef mit der gleichen Bescheidenheit wie 1945 erklären, daß seine Politik die Zukunft den Bürgern seines Landes nicht zum Geschenk machen, sondern nur alle in ihnen schlummernden Kräfte zur erneuten Bewältigung der Zukunft wecken kann.“

Auf den ersten Blick paradox scheinen nicht nur der Titel und jede Kapitelüberschrift dieses Buches, sondern kontinuierlich auch der blendende Stil des Autors.

Zum einen erweist sich Pisa hier als seriöser und fundierter Zeitgeschichtler und Zeitzeuge, der eingehend dokumentiert, über ein umfangreiches Daten- und Zahlenmaterial verfügt und bekennt, daß er besonders unserer empirischen Sozialforschung viel verdankt, andererseits strotzt das Buch von eigenständigen, oft eigenwilligen Bildern und Bonmots, Aphorismen und Apercus, die dem Thema jede Trockenheit nehmen und die Lektüre zum spannenden Erlebnis machen.

Mit Sachverstand

Zur bewundernswerten schriftstellerischen Begabung und beneidenswerten ars formulandi kommt aber noch Pisas Vorteil, Journalist und Ghostwriter der ersten Stunde der Zweiten Republik gewesen zu sein. Seit damals schreibt er Leitartikel und Gastkommentare, entwirft er Grundsatzprogramme für seine Partei, verfaßt Reden für vier Bundeskanzler und sechs Bundespar-teiobmänner der Volkspartei, alles im Einklang von Sachverstand, Einfühlungsvermögen und untrüglicher Loyalität.

Was am Anfang des Buches vielleicht dem Leser als ein rätselhaftes, typisch österreichisches Kaleidoskop erschienen ist, erweist sich am Schluß als ein neues, wohlgeordnetes und genial konzipiertes Spektrum Austriae.

Der Autor ist Bundeskanzler a. D.

OSTERREICH. LAND DER BEGRENZTEN UNMÖGLICHKEITEN: Von Karl Pisa. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart, 1985. öS 154,40.

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