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Tagung über Avantgarde, Jazz, Pop

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Am vorletzten Tag bekam die 31. Hauptarbeitstagung des Darmstädter Instituts für Neue Musik und Musikerziehung sozusagen Hand und Fuß. Oder, um es mit dem Titel einer hier aufgeführten Komposition zu sagen, mit der sich ein in München studierender witzbegabter Chinese, Chien Nau Chang, über avantgardistische Techniken lustig machte: Da wurde zu „Hand- und Fußstücken“, was vorher - als „mehrschichtiges Angebot“ an eine heterogene Teilnehmerschar - bloßes Stückwerk geblieben war. Der Gießener Musikwissenschaftler Ekkehard Jost sprach über „Neue Tendenzen im Jazz der 70er Jahre“, und diese Tendenzen erwiesen sich eindeutig als Verfallserscheinungen, von Jost als Merkmale einer industriell inszenierten Massenkultur gekennzeichnet.

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Am vorletzten Tag bekam die 31. Hauptarbeitstagung des Darmstädter Instituts für Neue Musik und Musikerziehung sozusagen Hand und Fuß. Oder, um es mit dem Titel einer hier aufgeführten Komposition zu sagen, mit der sich ein in München studierender witzbegabter Chinese, Chien Nau Chang, über avantgardistische Techniken lustig machte: Da wurde zu „Hand- und Fußstücken“, was vorher - als „mehrschichtiges Angebot“ an eine heterogene Teilnehmerschar - bloßes Stückwerk geblieben war. Der Gießener Musikwissenschaftler Ekkehard Jost sprach über „Neue Tendenzen im Jazz der 70er Jahre“, und diese Tendenzen erwiesen sich eindeutig als Verfallserscheinungen, von Jost als Merkmale einer industriell inszenierten Massenkultur gekennzeichnet.

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Der Zwang zum Erfolg, unter dem in Amerika die gigantischen Apparate der Schallplatten-Großkonzerne stehen, führte (etwa bei Musikern wie Miles Davies und Chick Corea) zur stilistischen Anpassung an die Erfordernisse des Marktes. Und nicht nur das: „Etikettenschwindel“ (so Jost) verdecke die Auswüchse des Kapitalismus: Vom „ewigen Glücksgefühl“ sei auf dem Cover die Rede, während es in Wahrheit nur um das ökonomische Glück der Produzenten gehe.

Nun, das alles ist - auch in den Auswirkungen auf die europäische Szene - vielleicht nicht brandneu. Neu war in Darmstadt die Reaktion einiger Teilnehmer, von tätigen und künftigen Musikpädagogen in der Mehrzahl, mit unterschiedlichen Voraussetzungen, Kenntnissen und Erwartungen; Laien auf der einen, Profis der Avantgarde auf der anderen Seite, an vierhundert insgesamt. Sie wollten von ökonomischen Bedingungen nicht allzuviel wissen. Sie beharrten auf dem Recht der Musiker, sich nach Phrasen der Komplizierung wieder einmal für das Einfache zu entscheiden. Nichts dagegen; nur ist das Einfache, sofern es nicht als Ergebnis des Komplizierten begriffen und erlebt wird, auch ein Instrument der Betäubung, des Niederhaltens von Kritik.

Das würde in Darmstadt bereits demonstriert, gewiß entgegen der Absicht des Veranstalters (der Marbur- ger Musikwissenschaftler Reinhold Brinkmann, der die Hauptlast der Programmierung zu tragen hatte, mag darin einen weiteren Beleg für seine These von der „Regression“ in allen Musiksparten erblicken). Nicht nur zeigte sich auffällig das Bedürfnis nach der neuen Einfachheit, es fehlte auch die öffentlich artikulierte Kritik an den seht widersprüchlichen Zielvorstellungen der Tagung, die zwischen wissenschaftlichem Anspruch und der Vermittlung von Gruppenerlebnissen, zwischen der Aufarbeitung von Defiziten (etwa der Hinwendung zur Pop- und Rockmusik in Theorie und Praxis) und der rein technischen Analyse oder Unterweisung schwankten.

Der Untertitel des in die Tagung eingebauten Kongresses über Avantgarde, Jazz und Pop dürfte das latente Generalthema am genauesten bezeichnen: „Tendenzen zwischen Tonalität und Atonalität“. Damit rückte indes wieder ein Teilaspekt nach vorn, nämlich der harmonische, verdeutlicht an dem recht fragwürdigen Gegensatzpaar „tonal-atonal“. Mehr oder minder unbefragt blieben gesellschaftliche, institutioneile und psychosoziale Gesichtspunkte, die nicht nur für die Trennung der Sparten, sondern auch für die stilistischen Prozesse in Avantgarde, Jazz und Pop weitgehend verantwortlich sind - abgesehen von dem eingangs erwähnten Referat über den Jazz und von Hinweisen des Komponisten Dieter Schnebel; aber sowohl Ekkehard Jost als auch Schnebel sprachen (zufällig oder nicht) über Entwicklungen in den USA…

Die Hervorhebung des Tonalitäts- Problems führte fast zwangsläufig zu einem merkwürdigen Rollentausch. Niels Frédéric Hoffmann, Musiklehrer und Komponist aus Hamburg, suchte die ambitionierten, der Macht des Kommerz zumindest vorübergehend trotzenden Produkte der Pop-Musik aus der Geschichte der ursprünglichen amerikanischen Volksmusik abzuleiten und berief sich dabei, zwecks Verständigung, auf die Kompliziertheits-Kriterien der europäischen Harmonielehre. Clytus Gottwald, Mu sikwissenschaftler und Schola-Canto- rum-Leiter, sowie Diether de la Motte, Komponist und Hochschulprofessor, beide in Theorie und Praxis der sogenannten Neuen Musik verpflichtet, waren hingegen mit intellektuellem Scharfsinn bemüht, gerade jene Kriterien und Qualitätsnormen zu relativieren.

Wie verhielten sich demgegenüber die Teilnehmer? Sie schrieben mit und lernten. Die unausgesprochene Norm des Lemenmüssens, der Beherrschung des Handwerks oder auch der Auffüllung des Wissens mit Informationen über amerikanische Außenseiter und junge deutsche Komponisten (Namen über Namen fielen!) war wohl so etwas wie der kleinste gemeinsame Nenner des Tagungsgeschehens; darin spiegelte sich freilich auch das Leistungsdenken in unserer Gesellschaft, unterschwellig in der jungen Generation längst wieder en vogue. Einen anderen „kleinsten Nenner“ hatte der Tübinger Philosoph Walter Schulz in seinem weit ausgreifenden Vortrag am Beginn des Kongresses gesetzt und damit zusätzliche Verwirrung geschaffen: Er hielt nämlich die Entlastungsfunktion der Kunst für eine brauchbare Kategorie in unserem nicht mehr an Metaphysik orientierten Zeitalter. Philosophisch mag die Reflexion zulässig sein - für die Kunst- Praxis ist sie gefährlich, weil Entlastung fast immer umschlägt zum Machtmittel derer, die gerade herrschen. Der Vortrag blieb unvermittelt mit dem weiteren Verlauf des Kongresses und mit den Kursen. Ich kann das hier nur andeuten:

Der Philosoph setzt für die Anschauung von „Freiheit“ oder „Wirklichkeit“ Begriffe ein, reduziert auf die schmale Basis möglicher Erkenntnisse. Auch in dem Kurs von Dieter Schnebel, gruppendynamischen „Klangaktionen“, war von „Freiheit“ die Rede, doch diesmal handelte es sich um eine Utopie der Selbstverwirklichung, von jedem einzelnen zu erreichen - sobald er bereit ist, frei nach Cage in dem, was klingt, das ganze Leben zu erkennen (und umgekehrt). Nachvollziehbar ist beides nur schwer, der reine Begriff und die blanke Utopie; die Erfahrung, um die es den meisten jungen Menschen hier ging, liegt genau dazwischen.

Versuch, eine Summe aus dem Angebot der Konzerte (über die in der gebotenen Knappheit nicht sinnvoll referiert werden könnte), der Kurse, der Gespräche mit Nachwuchs-Komponisten und des Kongresses zu ermitteln: Man grenzt sich eher gegeneinander ab. Man geht seinen Weg allein, bestenfalls in musikalischen Freundschaften. Gruppenbedürftige kaschieren dieses Alleinsein nur. Zwischen Pop und Avantgarde haben noch nicht einmal Gespräche begonnen. Konkret ist nur das soziale Engagement, sind aber auch die sozialen Kontrollen. Mit Musik geht nicht alles besser, sondern wird alles schwieriger - und wo es „einfach“ bleibt, droht, häufig von den Betroffenen unbemerkt, die „Vermarktung“.

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