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Weltliche und geistliche Prognosen für das Jahr 2000

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Die geistige und materielle Qualität des Lebens in Großbritannien, und der Weg dieses Landes in die ungewisse Zukunft des 21. Jahrhunderts - zu diesen Themen sind jetzt fast gleichzeitig und ganz unabhängig voneinander zwei sehr verschiedene Stimmen laut geworden: die eine kam aus dem Buckingham-Palast, die an- * dere aus dem katholischen Bischofssitz von Westminster.

Das bei weitem größere Aufsehen in der britischen Öffentlichkeit hat natürlich die einstündige Rundfunksendung erregt, in deren Verlauf Prinz Philip, der Gatte der englischen Königin, seine düsteren Spekulationen über ein dem bürokratischen Totalitarismus verfallenes Großbritannien im Jahre 2000 anstellte. Der Tradition nach haben Mitglieder des englischen Königshauses über allen Fragen der Tagespolitik zu stehen und sollten sich bei allen öffentlichen Erklärungen auf universell akzeptable Meinungsäußerungen beschränken - auf Platitüden also. Aber Prinz Philip hat sich dieser Regel immer am wenigsten gefügt, und seine ungeschminkten Äußerungen zu Tagesfragen haben ihn schon einigemale in Konflikt mit Teilen der britischen Öffentlichkeit gebracht, meistens mit deren linkem Flügel. Da man aber durchaus argumentieren kann, daß die königliche Familie das moralische Antlitz Großbritanniens in der Öffentlichkeit repräsentiert, und da dies kaum möglich ist, ohne gelegentlich über fundamentale Moralprobleme zu sprechen, so scheint die jetzige öffentliche Stellungnahme Prinz Philips an sich völlig gerechtfertigt; worüber er sprach, war im Prinzip nichts anderes als die Natur der Beziehungen zwischen Individuum und Staat - ein fundamentales Moralproblem. Weü aber gerade dieses Thema zur Zeit Gegenstand politischer Kontraversen in Großbritannien ist - und nicht nur dort - wurden die Worte des Prinzen sofort zum Politikum. Während nämlich die britischen Konservativen jetzt mehr denn je mit dem Schlachtruf „Befreiung des Bürgers von Staatsbürokratie“ in den Wahlkampf ziehen - Großbritannien lebt seit Monaten in einer „Vor-Wahl- stimmung“ - hat sich die regierende Labourpartei mit weiteren Verstaatlichungsplänen und ähnlichen Maßnahmen in wachsendem Maße einer kollektivistischen, statt einer individualistischen Ethik verschrieben, zumindest auf ihrem einflußreichen linken Flügel.

Basierend auf den gegenwärtigen Trends sieht Prinz Philip ein Großbritannien des Jahres 2000 voraus, in dem wegen wachsender Staatsintervention auf allen Sektoren des täglichen Lebens die moralische Verantwortlichkeit und Entscheidungsfreiheit des Einzelnen weitgehend unterminiert, wenn nicht eliminiert wurde - etwa in Fragen wie Kindererziehung, Wohnkultur, Gesundheitspflege, Erwerb von persönlichem Besitz und freier Berufswahl. Die Bedeutung des erarbeiteten Einkommens werde relativ zu den mit dem Arbeitsplatz verbundenen staatlichen Sonderleistungen - stammend natürlich aus Steuergel- dem - immer geringer werden, und damit natürlich auch Initiative und Motivierung der arbeitenden Bevölkerung. „Man sollte nicht vergessen,“ so fügte der Prinz hier hinzu, „daß Sklaverei schließlich nichts anderes ist als ein System des gelenkten Arbeitseinsatzes in Verbindung mit ,Sonderleistungen’.“ Sobald eine entschlossene Regierung einmal einen Prozeß der langsamen Erosion von bürgerlichen Rechten und Freiheiten einleite - mit den bestmöglichen Intentionen und dem Versprechen eines neuen Utopia - dann, so warnt Prinz Philip, werde es für den einzelnen und auch für individuelle Gruppen immer schwieriger, sich gegen diesen Trend zu stellen, wie die Geschichte der letzten 45 Jahre nur zu deutlich gezeigt habe.

Aber Prinz Philip sprach nicht ausschließlich in säkularen Begriffen; er wies auch daraufhin, daß die Zukunft Großbritanniens von Annahme oder Ablehnung bestimmter spiritueller und ethischer Werte abhängen werde.

„Wenn wir die christlichen Doktrinen der Nächstenliebe und der persönlichen Verantwortung für unsere Handlungen aufgeben, dann werden wir auf Dschungelebene zurücksinken.“ Und von diesen Worten Prinz Philips geht eine direkte Linie zu den schlichten Zeilen, die der Erzbischof von Westminster, Kardinal Hume, nur zwei Tage später für die Londoner „Times“ geschrieben hat, unter dem Titel „Vier Punkte der Hoffnung für eine Gesellschaft auf der Suche nach Ziel und Sinn“. Das Oberhaupt der englischen Katholiken war gerade von der fünften Vatikanischen Bischofssynode heimgekehrt und seine dortigen Erfahrungen haben ihn im Bezug auf Stellung und Aufgaben der Kirche in der heutigen Welt zu einer Art von vorsichtig qualifiziertem Optimismus geführt. Kardinal Hume ist sich natürlich der geistigen Probleme unserer Zeit genau bewußt, vor allem der überbetonten „Werte“ der modernen Konsumgesellschaft und des wachsenden Säkularismus. Aber er weist auf vier signifikante Wachstumsgebiete inner halb des kontemporären geistigen Lebens hin, die er als Keimzellen einer besseren Zukunft sieht: Erstens der wachsende Hunger nach Gebet und spiritueller Erfahrung, vor allem unter jungen Menschen, trotz deren scheinbarer Ablehnung der institutionalisierten Kirche; zweitens das immer deutlicher werdende Gefühl für universelle Gerechtigkeit, ausgedrückt unter anderem durch den weltweiten Kampf für Menschenrechte und durch die freiwilligen Hilfsaktionen für die Dritte Welt; damit eng verbunden und drittens: ein steigender Respekt für die Menschenwürde, die Ablehnung von Manipulation und Degradierung des Individuums durch den Staat; und viertens schließlich eine universelle Tendenz zum alten christlichen Instinkt,

Seelenloser „demokratischer“ Totalitarismus oder die Wiederentdeckung von Ziel und Sinn der menschlichen Existenz? Die Entscheidung über diese Zukunftsfrage, so meint Kardinal Hume, liegt allein bei uns.

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