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Sprachwissenschaft und Sanskrit

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Der Beginn der modernen vergleichenden und historischen Sprachwissenschaft im Abendland steht in engster Verbindung mit dem genaueren Bekanntwerden des Sanskrits in Europa. Vorahnungen eines geschichtlichen Zusammenhangs zwischen dem Sanskrit und verschiedenen europäischen Sprachen hatten sich auf Aehnlichkeiten im Wortschatz gestützt; erst die genauere Vergleichung des Baues dieser Sprachen schuf eine tragfähige Grundlage für die Erkenntnis der Art der Beziehungen dieser Sprachen zueinander. Als entscheidendes Datum für die Entstehung dieser neuen Wissenschaft gilt das Erscheinen des Werks des Deutschen Franz Bopp (geboren 1791 in Mainz, gestorben als Mitglied der Berliner Akademie 1867): „Ueber das Conjugationssystem der Sanskritsprache in Vergleichung mit jenem der griechischen, lateinischen, persischen und germanischen Sprache. Nebst Episoden des Ramajan und Mahabharat in genauen metrischen Ueber- setzungen aus dem Originaltexte und einigen Abschnitten aus den Vedas“ (Frankfurt am Main, 1816). Damit war der feste Grund für die vergleichende wissenschaftliche Betrachtung einer Gruppe von alten und neuen Sprachen gelegt, die man die indogermanische oder indoeuropäische nennt, weil sie vom östlichen Indien bis zum westlichen Germanischen reicht und die meisten Sprachen des heutigen und des antiken Europa umfaßt. Die besondere Rolle, die Bopp dem Sanskrit zumaß, ergibt sich aus dem genannten Titel und auch daraus, daß er nachher mehrere Sanskritgrammatiken verfaßt hat.

Kurz nach der Schrift von Bopp (1819) begann das große Werk „Deutsche Grammatik“ des Deutschen Jacob Grimm (geboren 1785 in Hanau, gestorben 1863 ebenfalls als Mitglied der Berliner Akademie) zu erscheinen. Hatte Bopp durch Vergleichung der ältesten Denkmäler der verschiedenen indogermanischen Sprachen die „Mutter“ aller dieser Sprachen wiederzufinden versucht, so wollte Grimm die geschichtliche Entwicklung bis heute nachzeichnen.

Diese beiden Betrachtungsweisen haben durch das ganze 19. Jahrhundert in friedlichem Wettbewerb die Sprachwissenschaft zu einer methodisch mustergültig aufgebauten Wissenschaft gemacht. Dabei trat allmählich die vergleichende Rekonstruktion der „indogermanischen Grundsprache“ in den Hintergrund, da die ihr zugrunde liegenden Gegebenheiten die gleichen blieben und verhältnismäßig beschränkt waren (erst im 20. Jahrhundert ist durch die Entdeckung des Hethitischen, das in der zweiten Hälfte des 2. Jahrtausends v. Chr. in Kleinasien gesprochen wurde, neues Leben in die Erforschung der Grundsprache gekommen). Dagegen stand und steht noch heute der historischen Durcharbeitung der einzelnen indogermanischen Sprachen ein reiches Feld offen. Fast alle wichtigen unter diesen haben heute ihre ausführliche geschichtliche Darstellung.

Nur das Sanskrit, das doch der Geburt der modernen Sprachwissenschaft Pate gestanden hat, entbehrt noch heute eines solchen Gesamtwerks. Der Grund mag — abgesehen davon, daß Indien weitab von Europa und Amerika liegt und daß die Engländer während ihrer Herrschaft über Indien der Sprachgeschichte wenig Interesse geschenkt haben — wohl darin liegen, daß die Chronologie der indischen Literaturdenkmäler für die älteren Zeiten außerordentlich schwierig zu ermitteln ist. Die einheimischen indischen Grammatiker, allen voran Panini (5. Jahrhundert v. Chr.?), haben mit einer unerhörten Schärfe der Beobachtung den lautlichen und grammatischen Bestand der Hochsprache ihrer Zeit, eben des Sanskrits, erkannt und systematisch dargestellt. Aber ihre Bemerkungen über die ältere, nur noch kultisch verwendete Sprache, die Sprache der Veden, beschränkten sich auf die Feststellung von Abweichungen dieser „vedischen“ Sprache vom Sanskrit. Es bedurfte der an der Entwicklungslehre geschulten abendländischen Sprachwissenschaft, um hier die sprachgeschichtliche Betrachtung einzuführen. So ist die Jr+feste historische Grammatik des Altindischen erst 1879 von einem Amerikaner herausgegeben worden: William Dwight Whitney, A Sanskrit Grammar, including both the classical language, and the older dialects, of Veda and Brahmana (Leipzig und London; XXIV und 486 S.; Aufl. 1889 S„ XXVI und 552 S.).

Aber auch diese Grammatik stellt zwar die vedische Sprache viel stärker in den Vordergrund als Panini; allein die entwicklungsgeschichtliche, erklärende Betrachtung kommt sehr wenig zur Geltung.

Deshalb unternahm es gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein Schweizer, Jacob W ackernagel (geboren 1853 in Basel, Professor für klassische Philologie in Basel 1879 bis 1902, Professor für indogermanische Sprachwissenschaft in Göttingen 1902 bis 1915, in Basel 1915 bis 1936, gestorben in Basel 1938), eine den modernen Anforderungen entsprechende ausführliche historische und zugleich vergleichende Grammatik des Altindischen zu schreiben. Unter dem schlichten Titel „Altindische Grammatik“ erschien als Band I die Lautlehre (mit einer ausführlichen sprachgeschichtlichen Einleitung) (Göttingen 1896; LXXIX und 344 S.). Es folgte 1905 der erste Teil des zweiten Bandes: „Einleitung zur Wortlehre. Nominalkomposition“ (XII und 329 S.). Da das klassische Sanskrit als hervorstechendes Merkmal der Kunstsprache eine ungeheure Verwendung kürzerer, längerer und überlanger Wortzusammensetzungen pflegte und demgemäß die einheimischen Grammatiker dieses Kapitel der Grammatik sehr einläßlich behandeln (auch für • die indischen Kommentatoren der Literaturwerke besteht ihre Aufgabe weit überwiegend in der „Auflösung“ der massenhaften Zusammensetzungen), ist dieser Band von Wackernagels Grammatik besonders aufschlußreich auch für die Grammatik der verwandten Sprachen.

Erst nach längerer Pause konnte als 3. Band 1930 ein weiteres Werk erscheinen (XVI und 602 S.); er behandelt die Nominalflexion, das Zahlwort und das Pronomen. Alle Bände wurden von der Fachkritik begeistert begrüßt und fanden auch in Indien hohe Anerkennung; dort wurde Wackernagel sogar als der „europäische Panini“ bezeichnet!

Schon für den 3. Band hatte Wackernagel eines vorgerückten Alters wegen mich als Mitarbeiter herangezogen. Nach seinem Tod war es meine erste Aufgabe, aus seinem Nachlaß die Lücke zwischen II l und III zu schließen, indem Wackernagels Entwürfe, die meist sehr weit zurücklagen, auf den Stand der Gegenwart gebracht wurden. Der Band II 2, der die im Altindischen reich ausgebildete suffixale Ableitung von Substantiven und Adjektiven behandelt, wird etwa 800 Druckseiten umfassen (d. h. mehr als das Zehnfache des entsprechenden Abschnittes bei Whitney) und ist zur Zeit im Druck; die geschichtliche Darstellung wird zeigen, was von dem altindischen Suffixbestand der Grundsprache angehört und wie dieser Grundbestand weit ausgedehnt und vermehrt worden ist.

Für den 4. Band bleibt das Verbum übrig. Dabei wird die vedische Sprache weit im Vordergrund stehen müssen: durch den Vergleich des Vedischen mit dem Griechischen ist eine reiche Entfaltung des Verbalsystems als grundsprachlich erwiesen; aber das klassische Sanskrit hat dieses in direkt revolutionärer Weise umgestürzt und fast ganz durch •neue Mittel ersetzt. Dafür einige Beispiele: Es heißt nun Devadatto mrtah, „Devadatta gestorben“, statt Devadatto mamara, „Devadatta starb“; Devadattah katam krtavan, „Devadatta eine Matte gemacht habend“, statt Devadattah katam cakara, „Devadatta hat eine Matte gemacht“; Maksika-geya-sra- vana-sukhan nimilitanayanah, „aus Fliege- Gesang-Hören-Glück geschlossen-äugig“ bedeutet: „da er (der Elefant) die Augen geschlossen hatte, weil er mit Genuß dem Summen der Fliegen zuhörte".

Die Ausarbeitung dieses letzten Bandes wird noch Jahre erfordern. Aber schon die bisherigen Bände dürfen als ein Teil der Abtragung einer Dankesschuld gelten: Indien hat die abendländische Sprachwissenschaft vor eineinhalb Jahrhunderten begründen helfen — diese bietet dafür Indien die erste umfangreiche historische und vergleichende Grammatik der schönen, reichen, interessanten altindischen Sprache, und der Verfasser dieses Artikels freut sich als Schweizer, daß das ganze Werk der Gedanke eines Schweizers ist: seines verehrten Lehrers Jacob Wackernagel.

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