Code - © Illustration: Rainer Messerklinger

Belarus: Der Geist aus dem Quellcode

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Belarus hat nicht nur Bürger, die gegen den Präsidenten demonstrieren, es hat auch Spezialisten im Netz, die den Kampf gegen das Regime Lukaschenko aufgenommen haben.

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Belarus hat nicht nur Bürger, die gegen den Präsidenten demonstrieren, es hat auch Spezialisten im Netz, die den Kampf gegen das Regime Lukaschenko aufgenommen haben.

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An diesem Tag jagte es wohl vielen in den Reihen des belarussischen Sicherheitsapparates Angstschauer über den Rücken. Das Regime hatte einen neuen Feind, und der demonstrierte gleich, was er so konnte: Man nehme ein Foto von einem maskierten Polizisten, der gerade einen Demonstranten verprügelt, man erfasse die Augenpartie – denn nur die ist zu sehen – und gleiche sie über eine Gesichtserkennungssoftware mit frei im Netz verfügbaren Fotos auf sozialen Medien ab. Und schon ist sie da: die praktisch volle Identität einer Person, die an sich peinlichst darauf bedacht war, ihre Identität eben nicht preiszugeben.

Und nun lauert ihr Feind nicht unter Demonstranten, sondern im anonymen Netz. Dort, im Internet, gibt es dieser Tage zuhauf Fotos von prügelnden Polizisten in Gesichtsmasken – und täglich kommen neue hinzu. Auch am vergangenen Wochenende demonstrierten die belarussischen Sicherheitskräfte wieder eindrucksvoll, wie der „Dialog“, den Machthaber Alexander Lukaschenko gerade bei einem Treffen mit inhaftierten Oppositionellen ausgerufen hatte, aussehen könnte: Teils mit Kalaschnikows bewaffnete Beamte gingen mit Blendgranaten, Tränengas und Wasserwerfern gegen Demonstranten vor – und wurden freilich gefilmt.

Anhaltende Proteste

Das ist nicht das erste Mal. Seit dem Frühjahr halten Proteste in Belarus an – seit der Wahl Anfang August gibt es sie täglich. Hunderttausende waren zwischenzeitlich auf den Straßen. Ein Massenaufstand. Eine sich Tag für Tag mehr und mehr formierende echte Zivilgesellschaft. Im Umkehrschluss bleibt ein Regime, das sich mit finanzieller und zumindest auch logistischer Unterstützung Russlands innerhalb seiner Strukturen und Organe verbarrikadiert hat. Und das allem Anschein nach erfolgreich. Wäre da nicht dieser Flaschengeist, der sich jetzt gegen seinen einstigen Herrn wendet: Hacker, IT-Experten, Softwarespezialisten, Freaks. Leute in Summe, die vor Kurzem noch die Hoffnung des Systems waren. Leute, aus deren Kenntnissen das belarussische Regime ein echtes wirtschaftliches Standbein aufbauen wollte.

Der IT-Sektor war für das an Rohstoffen arme Land seit dem Jahr 2005 ein Hoffnungsgebiet. Damals wurde mit dem High Tech Park (HTP) ein System geschaffen und nach und nach ausgebaut, das sich zu einer Säule der belarussischen Volkswirtschaft entwickelte: durch Steuerfreiheit, weitreichende Deregulierung und ein Bildungssystem, das sich auf den Sektor spezialisierte. In Summe ein an Hongkong angelehntes Ein-Land-zwei-Systeme-Modell. Nur eben nicht geografisch, sondern dezentral. Belarusʼ herkömmliche Industrie ist ineffizient und von russischen Gas- und ÖlImporten zu Sonderkonditionen abhängig. Moskau aber ließ sich diese Sonderkonditionen immer durch politische Zugeständnisse abkaufen. Die Datenleitungs-Infrastruktur Belarusʼ wiederum ist gut, und so wurde die Idee eines osteuropäischen Silicon Valley geboren. Bezeichnend ist dabei ein Detail: Die Idee dazu hatte Valery Tsepkalo. Genau dieser Mann hat heuer versucht, bei den Präsidentschaftswahlen im vergangenen August gegen Lukaschenko zu kandidieren. Er wurde nicht zugelassen und floh aus dem Land.

Der Geist allerdings, den er weckte, der entwich der Flasche – und blieb draußen. Die IT-Branche erwies sich gerade während der den Wahlen folgenden Proteste als eine Macht, die sich für den Staat als komplett unkontrollierbar herausstellte. Da stellten IT-Unternehmen etwa eine Petition auf, erhoben politische Forderungen wie die sofortige Freilassung von politischen Gefangenen oder Informationsfreiheit, drohten offen mit dem Abzug aus Belarus – und CEOs, Manager und Gründer von 500 Unternehmen unterzeichneten. Und das Regime? Das tat, was sich in den Jahrzehnten zuvor immer als zielführend erwiesen hatte: Es durchsuchte, prügelte, verhaftete, inhaftierte, folterte.

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