Warum gewaltloser Protest erfolglos bleibt
1989 hat der friedliche Widerstand die Diktaturen des Kommunismus gestürzt. Warum laufen heute Demonstranten in Belarus, Hongkong, Myanmar oder Russland gegen gewaltbereite Apparate erfolglos Sturm? Der Historiker Philipp Ther kennt die Gründe dafür.
1989 hat der friedliche Widerstand die Diktaturen des Kommunismus gestürzt. Warum laufen heute Demonstranten in Belarus, Hongkong, Myanmar oder Russland gegen gewaltbereite Apparate erfolglos Sturm? Der Historiker Philipp Ther kennt die Gründe dafür.
Philipp Ther ist Historiker, Revolutionsexperte und Transformationsforscher. Er hat mit „Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent“ den Preis der Leipziger Buchmesse gewonnen – und einen Bestseller der Analyse des Umbruchs 1989 vorgelegt. Ein Gespräch über Parallelen zu Revolten der Gegenwart und neue Strategien der Machthaber von heute.
DIE FURCHE: Die Geschwister Scholl haben den zivilen Ungehorsam gegen das Naziregime eingefordert und sind – gemeinsam mit Ghandi – Vorbilder dieser Art des „guten“ Widerstandes in Europa. Bei den Revolutionen 1989 feierte dieses Modell einen durchschlagenden Erfolg. Heute versuchen Zehntausende in Belarus, aber auch in Myanmar und Hongkong, gegen sehr viel stabilere Regime vorzugehen. Kann das Erfolg haben?
Philipp Ther: Die Strategie des gewaltfreien Widerstands im Jahr 1989 und davor war eine bewusst gewählte: Die Demonstranten wussten, dass sie mit Gewalt noch mehr Gegengewalt erzeugen würden und dass ihnen das Regime auf dieser Ebene überlegen sein würde. Es war aber auch eine ethische Erwägung, dass Gewalt abzulehnen ist und nicht zu dauerhaftem Erfolg führt. Man wählte bewusst eine mittelfristig auf Reformen abzielende Strategie, keinen gewaltsamen Regimewechsel und Austausch der Eliten. Allerdings hat das deshalb so gut funktioniert, weil die Machthaber letztlich auf massenhafte Gewalt nach chinesischem Vorbild verzichtet haben. Es war auch das Glück des Augenblicks – es hätte durchaus anders kommen können. Die aktuellen Oppositionsbewegungen haben mit dem Dilemma zu kämpfen, dass die Regime dort selbst vor brutaler Gewalt nicht zurückschrecken. So gesehen kann man nur bedingt aus der Geschichte lernen.
DIE FURCHE: Gibt es in der jüngeren Geschichte denn ein Beispiel von zivilem Ungehorsam, der in Gewalt umgeschlagen hat und erfolgreich war?
Ther: Die ukrainische Revolution von 2013/2014 folgte ursprünglich einer Strategie der Gewaltfreiheit. Hunderttausende haben nach dem Vorbild von 1989 friedlich gegen das Regime von Präsident Viktor Janukowitsch protestiert, bis dieser den Schießbefehl erteilte, worauf auch ein kleiner Teil der Demonstranten zurückschoss. Historisch betrachtet sind derartige Eskalationen im Zuge einer Revolution nichts Seltenes. Das Dilemma ist, dass Gewaltfreiheit zu einem Kompromiss mit Vertretern des jeweiligen Regimes führt, das beseitigt werden soll. Die Kommunisten gaben die Macht 1989 auch deshalb ab, weil sie wussten, dass ihr Leben nicht unmittelbar bedroht wurde und sie erst einmal geschont würden. Derlei Kompromisse kann man leicht delegitimieren. Genau das betreibt die PiS in Polen, indem sie den gewaltfreien Umbruch als Pakt zwischen alten und neuen Eliten zum Schaden des Volkes darstellt.
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DIE FURCHE: Überall, wo es Macht gibt, ist Widerstand. Aber was sind die Auslöser, dass dieser Widerstand offen in Demonstrationen mündet?
Ther: Da kann man auf Hannah Arendt oder auf marxistische Revolutionstheorien zurückgreifen: Zunächst verliert das ancien regime an Handlungsspielraum, bis es seine Herrschaft nicht mehr legitimieren kann. Die kommunistischen Regime waren ja in vielerlei Hinsicht am Ende, ideologisch und wirtschaftlich. So entstand ein Vakuum der Macht, das die Revolution erst ermöglichte
DIE FURCHE: Spielt nicht existenzielle Bedrohung der Grundbedürfnisse eine große Rolle, damit sich Widerstand zum Aufstand auswachsen kann? Man denke an die Französische Revolution, wo die hohen Brotpreise das Fass zum Überlaufen brachten. Auch bei der Russischen Revolution waren die Lebensmittelpreise der unmittelbare Auslöser. Kann man daraus ableiten: Gib dem Volk zu essen – und du hast keine Revolution?
Ther: Die Wirtschaftslage allein erklärt noch keinen Ausbruch einer Revolution. Der hohe Brotpreis war ja nur ein Zeichen der wirtschaftlichen Unfähigkeit des Regimes. Umstürze werden jedoch selten von den ganz Armen, sondern meist von einer mit dem System unzufriedenen Mittelschicht getragen, die frei nach Lenin ein revolutionäres Bewusstsein haben muss. Das tiefere Problem sind also die Einstellungen, nicht der Hunger.
China zeigt vor, wie das Internet zur massiven Überwachung der Menschen instrumentalisiert wird. Die sozialen Netzwerke führen außerdem zu einer Zersplitterung. Das gefährdet die liberale Demokratie.
DIE FURCHE: Daran anknüpfend: In vielen Reformstaaten war die existenzielle Lage kurz nach der Revolution 1989 – und eben durch die Reformen – für viele schlimmer als zuvor. Warum gab es letztlich nur diesen einen Aufstand?
Ther: Die Revolution ließ sich durchsetzen, weil das alte Regime inklusive Perestroika am Ende war. Als 1990 Massenarbeitslosigkeit ausbrach, gab es selbstverständlich Widerstand. Aber das hat dann die radikalen Reformer zu Kompromissen gezwungen. Es wurden nicht alle Unternehmen geschlossen oder verkauft, die defizitär waren. Ein zweiter Faktor, warum die Proteste sich verlaufen haben: Man war erschöpft vom Protest und musste das tägliche Überleben meistern. Leider wurden damals sehr viele Initiativen für eine Demokratisierung staatlicher Institutionen und der Wirtschaft gestoppt.
DIE FURCHE: Und warum gab es diesen Systemkollaps in Belarus nicht? Oder anders gefragt, was kann Lukaschenko, was Honecker nicht konnte?
Ther: Fragen wir lieber, was Janukowitsch in der Ukraine nicht konnte, weil das zeitlich und geografisch näher liegt. Lukaschenko ist es gelungen, den Sicherheitsapparat bei der Stange zu halten. In der Ukraine hingegen ist ein Teil der Sicherheitskräfte abgesprungen. Lukaschenko aber belohnt die Spezialeinheiten des Innenministeriums und der Polizei reichlich für ihre Gewalttaten. Sie wissen außerdem, dass sie Straftaten begangen haben, von denen sie kein demokratisches Gericht freisprechen würde. So gesehen kann illegitime Gewalt die Reihen des Regimes auch schließen.
DIE FURCHE: Also sehen Sie keine Hoffnung für die Aufständischen in Belarus?
Ther: Lukaschenkos Schwachstelle ist, dass es sehr teuer ist, einen so umfangreichen Sicherheitsapparat aufrechtzuerhalten. Entscheidend war bislang, dass der russische Präsident Putin ihm Rückendeckung bietet.
Philipp Ther
Philipp Ther ist Gründer und Direktor des neuen Forschungszentrums für die Geschichte von Transformationen (RECET) an der Universität Wien.
Philipp Ther ist Gründer und Direktor des neuen Forschungszentrums für die Geschichte von Transformationen (RECET) an der Universität Wien.
DIE FURCHE: Eine immer wieder umstrittene Frage ist: Wie sehr gehören Demokratie und marktwirtschaftliche Prosperität zusammen – und ist China nicht drauf und dran, auch global alle Widerstände gegen sein Modell eines diktatorischen Kapitalismus zu überwinden, weil es das stärkste aller Argumente hat: Wachstum?
Ther: China hat 1989 genau beobachtet, was sich in den Ostblockstaaten und in der Sowjetunion abspielt, und daraus gelernt. Die KPCh hat massiv Gewalt eingesetzt, aber der Bevölkerung ein Wohlstandsversprechen gegeben. Insofern gibt es dort einen contrat social: steigender Wohlstand gegen Schweigen und politische Passivität. Das bedeutet für das Regime in Peking aber Wachstum um jeden Preis. Der Zwang, die Masse der Bevölkerung zufriedenzustellen, könnte übrigens auch die Klimazusagen des Regimes infrage stellen. Offensichtlich ist das Regime nervös. In Hongkong wird deshalb so hart durchgegriffen, damit dort bloß keine Präzedenzfälle gesetzt werden.
DIE FURCHE: Das Internet wurde lange als ein allen zugängliches Instrument der Kommunikation gesehen, dem selbst Diktaturen nicht gewachsen sind. Doch mittlerweile scheint es vielfach eher den Unterdrückern zu dienen. Was ist da geschehen?
Ther: Die Mobilisierung durch neue Medien und die Mobiltelefonie haben bei den sogenannten coloured revolutions, etwa in der Ukraine, viel bewegt. So konnte die Opposition ganz anders mobilisieren. Doch in den letzten Jahren verwenden auch alle Regimes die neuen Medien zur Kontrolle und Repression – da ist China beispielhaft. Dort trägt das Internet zur Stabilisierung des Regimes bei, weil man nicht nur die Meinungsäußerung, sondern das gesamte Sozial- und Konsumverhalten der Menschen inzwischen massiv überwacht. Obendrein führen soziale Medien längst zu einer Zersplitterung und Fragmentierung der Öffentlichkeit. Die Radikalisierung in Kommunikationsnischen gefährdet die liberale Demokratie und begünstigt Rechtspopulisten, wie die Kampagnen für den Brexit oder für Trump gezeigt haben.
Der Artikel erschien in der FURCHE 19/21 unter dem Titel "Das Dilemma gewaltlosen Protests".
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