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Halbzeit

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Das Kalenderblatt zeigt den Monat Juni. In der Hast der Zeit haben wir beinahe unversehens bald wieder die Hälfte des kaum begonnenen Jahres 1958 hinter uns gelassen. Mag der Horizont der großen Politik von Wolkenbänken überzogen sein, mögen andere Länder in schweren Fieberschauern liegen: Für Oesterreich und seine Politik ist 1958 ein „ruhiges Jahr“ — wie selten eines vorher, wie wahrscheinlich kaum eines nachher. Kein Staatsoberhaupt ist in diesem Jahr zu bestellen, kein Nationalrat zu wählen, und auch in keinem der neun Bundesländer stehen Landtagswahlen auf dem politischen Terminkalender.

Halbzeit.

Und dennoch: Gerade dieses Wort sagt, daß Ruhe nicht mit Sorglosigkeit und „Sichtreiben-lassen“ verwechselt werden darf, sondern, als „schöpferische Pause“ genutzt, kommende Entscheidungen vorbereite.

Der österreichische Regierungschef weiß jedenfalls außenpolitisch das „ruhige Jahr“ gut zu nutzen, wenn er eine Reihe von offiziellen Auslandsreisen absolviert. Eben aus Washington zurückgekehrt, werden seine Koffer für Moskau umgepackt.

Dazwischen liegt aber ein heißer Monat Juni in Wien. Ein heißer Monat österreichischer Innenpolitik. Die Warteliste der aufgelaufenen Fragen, die einer Lösung zugeführt werden wollen, hat eine respektable Länge angenommen. Ein kleiner Vorgeschmack: Die Tagesordnung des Ministerrates dieser Woche zählte allein 30 Punkte. Hart stoßen sich die gegensätzlichen Auffassungen der Koalitionsparteien vor allem in den Fragen Ausgabe von Volksaktien in den verstaatlichten Betrieben und Sanierung der Krankenkassen. Ein zähes Handeln und Verhandeln wird die nächsten Wochen erfüllen. Juni ist schon ein Sommermonat, Wärmegewitter sind daher durchaus möglich. Auch in der Koalition. Man darf aber doch annehmen, daß in politisch ernst zu nehmenden Kreisen niemand wirklich daran denkt, die Karten zusammenzuwerfen und die für Frühjahr 1960 fälligen und für Herbst 1959 zu er-, wartenden Neuwahlen um l'A Jahre vorzuziehen.

Wem könnte damit gedient sein? Der SPOe? Schwerlich. Sie steht noch mitten in einem großen geistigen und personellen Umgruppierungsmanöver, in dem es nie gut ist, Waffengänge anzunehmen, geschweige denn zu provozieren. Aber auch die Volkspartei hat wahrlich keinen Grund, alles auf eine Karte zu setzen. Selbst dem freundschaftlichsten Beobachter fiele es schwer, zu behaupten, daß die seit den Präsidentenwahlen des vergangenen Jahres schwingende Waage der politischen Gunst sich wieder eindeutig auf ihre Seite geneigt hat. Zu Nervosität und den aus ihr resultierenden Kurzschlußreaktionen ist aber kein Anlaß.

Noch ist genügend Zeit, um neben der sachlichen Arbeit sich in aller Ruhe aber Konsequenz dem Ausbau einer zweiten Linie zu widmen und durch die Tat die da und dort sich festsetzende Meinung zu korrigieren, daß man auf der linken Seite zur Stunde eine größere geistige und personelle Regenerationsfähigkeit beziehungsweise -Willigkeit feststellen könne. Nur wer stehen bleibt, fällt zurück.

Daran zu, erinnern ist erlaubt, ja geboten, wenn man zwischen zwei Etappen auf der Halbscheid des Weges hält.

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