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Nicht kommandieren!

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Seit fünf Jahren stagniert die sowjetische Agrarproduktion. Kein Wunder also, wenn die neue Sowjetführung jetzt das private Hofland der Kolchosbauern wieder auf den Stand von 1955 ausdehnen läßt, in der Erwartung, mit der Stimmung der Landarbeiter auch die Erträge wieder zu heben. Im November 1964 wurden bereits entsprechende Anordnungen erlassen, von denen in diesem Jahr in der ukrainischen und in der russischen Sowjetrepublik vierzehn Millionen Haushaltungen profitieren werden. (Dazu kommen noch Millionen Arbeiter und Angestellte in den Städten, denen in der Chruschtschow-Ära der private Hühner- und Kleintierstall geschlossen worden war und die jetzt wieder ihrem nahrhaften „Hobby“ nachgehen dürfen.) „Nicht kommandieren, nicht administrieren, sondern die Initiative mit allen Mitteln fördern, darin liegt das Unterpfand des Erfolgs“, empfahl die „Prawda“ am 5. Jänner als Rezept für die Landwirtschaft. Das theoretische Parteiorgan „Kommunist“ hat sich mit dem ungarischen Nadudvär-System so ausführlich und freundlich beschäftigt, daß manche Experten seine Anwendung in der sowjetischen Kolchoswirtschaft erwarten.

„Wir werden auf der Basis der Konsumentennachfrage zu planen beginnen und zwar nicht nur in der Konsumgüterindustrie, sondern in allen Zweigen unserer Wirtschaft.“ Dieser Satz Ministerpräsident Kos-sygins auf der letzten Sitzung des Obersten Sowjet stellt die Weichen für eine Reform, die Staatspräsident Mikojan „revolutionär“ nannte. Mitte Jänner kündigte die Sowjetregierung, an, daß ab 1. April 400 Fabriken der Konsumgüterindustrie ihre Produktion nicht an der zentralen Planung orientieren, sondern an der Nachfrage ihrer Abnehmer, die nunmehr unmittelbare Bestellungen aufgeben können. Die schüchternen Anfänge eines Marktes — und das beginnende Ende des bisher allmächtigen Planes...

„Wenn man alle Planänderungen während der letzten Jahre allein in der Wirtschaftsregion Moskau zusammenrechnet, wurden verschiedene Planaufgaben durchschnittlich einmal täglich geändert“, schrieb die „Prawda“ am 13. November letzten Jahres und legte den Finger auf eine Wunde, die seit Jahrzehnten alle kommunistischen Planwirtschaften schmerzt Der „Plan“, der nun von seinem Podest gestürzt wird, war also ohnehin längst ein durchlöchertes, unzulängliches Gebilde. Aber er verkörperte — das sei nicht übersehen — einen Teil des kommunistischen Credos, des Irrglaubens an die Gleichheit und (deshalb) an die Planbarkeit menschlicher Bedürfnisse. Weil als Folge der Liberalisierung das Wesentliche eines ganzen Lehrgebäudes zu zerbrechen scheint, setzen sich die Doktrinäre zur Wehr — und versuchen anderseits die Reformer, das Gesicht zu wahren. Der Prozeß scheint jedoch unaufhaltsam zu sein.

Angespornt durch die Alltagsnöte, durch die ideologischen Gleichgewichtsstörungen, die der sowjetisch-chinesische Gegensatz ständig erzeugt, und schließlich auch getrieben durch Maöhtverschiebun-gen beim Generationenwechsel im Inneren der Länder, bewegt sich heute fast ganz Osteuropa aus der Sackgasse der wirtschaftlichen Dogmen.

Wenn dabei — zumindest methodisch — liberale westliche Leitbilder wirksam sind, wäre es doch verfehlt, daran die Erwartung einer totalen Umkehr oder einer völligen Auflösung des ökumenischen Systems der Kommunisten zu knüpfen. Hinter der Entschlossenheit zum Umdenken, zur Reform, zum Wettbewerb der Systeme regt sich nur sehr zaghaft und verhohlen die Sehnsucht nach wirklicher Annäherung an westliche Wirtschaftsweisen. Sie wird freilich ermuntert — auch das sollten wir nicht übersehen — durch eine Tatsache, deren wir im Westen keineswegs froh sein können: die zunehmende Durchlöcherung unseres eigenen liberalen Wirtschaftssystems durch staatlichen Dirigismus, durch Kartelle und Monopole. Abgestoßen aber wird der Wille zur Annäherung durch einen anderen Umstand, auf den wir uns sonst mit viel Stolz berufen: die westeuropäische Wirtschaftsintegration. Die Zollschranken, die sie nach inhen abbaut und nach außen errichtet, behindern eben nicht nur die Geschäfte einiger Obsthändler, sie hemmen auch den so wichtigen Austausch der Ideen.

Mehr als nur geschäftlicher Ärger regt sich da. Es geht da nicht bloß um Importlizenz, Abschöpfungsquoten und Kreditgarantien; hier werden die psychologisch-politischen Wirkungen einer kleineuropäischen Politik spürbar. Die Wirtschaft ist ihr empfindlichster Seismograph, denn sie bildet gerade jetzt, in der Periode der Reformen, des Suohens nach neuen Wegen, die verwundbarste Stelle der kommunistischen Orthodoxie. Wer die politischen Wandlungen fördern will, darf sich gerade der wirtschaftlichen Annäherung nicht entziehen.

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