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Politischer Offenbarungseid

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Der Libanon erlebt, fast genau zehn Jahre nach der letzten, gegenwärtig eine neue Staatskrise. Im Hochsommer 1958 verweigerte der damalige Präsident den fälligen Rücktritt, und es kam deshalb zur Krise. Im Herbst 1968 verlangt es den jetzigen Präsidenten nach seinem noch nicht fälligen Rücktritt, und es kam deshalb ebenfalls zur Krise. Die Hauptfiguren von damals wie heute sind dieselben: Camille Chamoun, Staatsoberhaupt vor Fuad Chehab, Staatsoberhaupt nach 1958. (Der gegenwärtige Platzhalter, Charles Helou, von dem niemand genau weiß, ob er verfassungsrechtlich noch regiert oder schon zurückgetreten ist, amtiert nur noch auf Abruf.) Die Gründe von damals wie heute sind jedoch nicht personeller Natur, sondern die sich unaufhaltsam verändernde innere Struktur und das nach wie vor unentschiedene Tauziehen um die außenpolitische Orientierung der „nahöstlichen Schweiz“.

Christen und Moslems

Der Libanon ist, nach seiner Verfassung, eine parlamentarische Demokratie. Das demokratische Wechselspiel dient jedoch nur als Mittel zum Zweck einer angemessenen Machtverteilung zwischen den unzähligen ethnischen und religiösen Gruppen, und die politischen Parteien vertreten hauptsächlich die verschiedenen Minoritäten oder Familienclans. Die zuletzt 1947 reformierte Konstitution schreibt vor, Staatschef müsse immer ein maroni- tischer Christ, Regierungschef ein sunnitischer Moslem sein. Die übrigen Ämter verteilen sich auf die kleineren Minderheiten. Dadurch soll gewährleistet werden, daß alle Gruppen entsprechend ihrer zahlenmäßigen Stärke am öffentlichen Leben beteiligt sind.

Dieses System konnte natürlich nur so. lange, funktionieren, wie, das Ämtergleichgewicht den ‘ tatsächlichen Grüppenstärkem KßhPfh oder ihren jeweiligen Veränderungen angepaßt wurde. Eine andere Lösung wäre gewesen, die „Proporzdemokratie“ allmählich durch ein echtes politisches Gleichgewichtssystem zu ersetzen, in dem die Parlamentarier nicht mehr nach ethnischen, religiösen oder familiären Voraussetzungen, sondern wegen ihres politischen oder sozialen Programms gewählt werden. Beides geschah nicht. Im Gegenteil: Während sich die traditionelle innerpolitische Gewichtsverteilung immer mehr versteinerte, verschob sich unaufhaltsam die Minoritätenstruktur.

Früher gab es etwas mehr als die Hälfte Christen, und etwas weniger als die Hälfte Moslems. Auf diesem Kräfteverhältnis beruht die Konstitution von 1947. In den letzten Jahren kehrte es sich jedoch allmählich um, und es gibt heute mehr Moslems als Christen. Statt die Machtverteilung neu zu regeln, beließ man es, weil man sich darüber nicht einigen konnte, bei den alten Vorschriften. Um zu verschleiern, wie wenig sie noch den Tatsachen entsprachen, veröffentlicht man seit mehreren Jahren keine Zahlen mehr über das Wachstum der ethnischen und konfessionellen Minoritäten. Diese Lage ist einer der beiden Hauptgründe für die gegenwärtige Staatskrise. Der andere ist außenpolitischer Natur.

Das Land lebte, bis spätestens zum vorjährigen arabisch-israelischen Sechstagekrieg, von seiner Neutralität. Beirut war als internationaler Finanzplatz der naturgegebene Tresor der Ölscheichs und einer der wichtigsten Umschlagplätze des regionalen Handels. Außerdem wirkte es als innerarabisches Überdruckventil. Nur hier kam es zu dem in allen anderen nahöstlichen Staaten, mit Ausnahme Israels, unterdrückten freien politischen Kräftespiel.

Seit 1958 änderte sich das allmählich. Nach der Gründung der „Vereinigten Arabischen Republik“ zwischen Ägypten und Syrien erhielt der panarabische und sozialrevolutionäre Nasserismus auch hierzulande starken Auftrieb. Begünstigt wurde das durch die sich verschärfenden sozialen Gegensätze zwischen der reichen Aristokratie und den neureichen Bankiers und Geschäftsleuten auf der einen sowie den Arbeitern auf der anderen Seite. Camille Chamoun, Präsident von 1952 bis 1958, verursachte in dieser Situation die erste ernste Krise. Die Konstitution erlaubt nach einmaliger Amtsperiode keine direkte Wiederwahl. Chamoun beabsichtigte jedoch eine diesbezügliche Verfassungsänderung. Er wollte eine kontinuierliche Weiterentwicklung der innerarabischen Neutralität und der prowestlichen Orientierung des Landes. Auf dem Höhepunkt der dadurch ausgelösten Auseinandersetzung landeten, von ihm herbeigerufen, amerikanische Truppen am Strand von Beirut. Chamoun mußte dennoch gehen. Sein Nachfolger wurde der langjährige Armeechef und Verteidigungsminister Emir Fuad Abdullah Chehab.

Der Sproß einer der vornehmsten libanesischen Adelsfamilien erreichte zwar keine sozialen Reformen, wohl aber einen scharfen politischen Kurswechsel. Die Beiruter Regierung unterstützte fortan den panarabischen Nationalismus Kairoer Prägung. Am Ende der Amtszeit Chehabs hatte das Land zwar keinen inneren sozialen Frieden gewonnen, doch die äußere finanzielle Sicherheit weitgehend verloren. Die Ölgelder flössen immer mehr in sichere westliche Depots, und der Zusammenbruch der „Intra“-Bank sowie der Sechstagekrieg brachten das Ende Beiruts als internationalen Finanzplatz.

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