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Kirche und Masse

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Der protestantische Theologe und Soziologe W e n d 1 a n d, Professor in Münster in Westfalen, rollt in den acht Kapiteln seines Werkes die Frage auf, die für alle christlichen Kirchen, auch für die katholische, von gleicher Wichtigkeit ist: Wie kann sich die Kirche in der modernen Gesellschaft zurechtfinden? Dazu untersucht er eingehend die Frage, wie weit die Frohbotschaft Christi überhaupt eine Beziehung zur irdischen Gesellschaft und zu ihren Problemen hat. Er sieht zuerst in den verschiedenen sittlichen Geboten des Neuen Testaments den ersten Ansatz zu einer christlichen Sozialordnung, im Geist der Liebe und der Armut, den das Evangelium predigt (S. 41—45), dann aber vor allem im Naturrecht, das außerhalb des christlichen Bereiches als notwendig gelte, innerhalb des Christentums aber als göttliche Ordnung erkannt werde (S. 85 ff.). Der eschatologische Charakter des Christentums hebt also die Verpflichtung, nach der wahren irdischen Gesellschaftsordnung zu streben, nicht auf, weil auch der Christ nach der gewöhnlichen Ordnung nur auf dem Weg einer natürlich gesunden Gesellschaftsordnung zur Entfaltung des christlichen Lebens gelange. Diese Vorüberlegungen würden in einer katholischen Untersuchung vielleicht kürzer ausfallen, weil der Katholik die Kirche viel stärker als der Protestant als Gesellschaft im Vollsinn des Wortes sieht.

Die weiteren Kapitel bilden eine Analyse der modernen Gesellschaft, die als Massengesellschaft charakterisiert wird, die alle natürlichen Bindungen des Menschen mehr und mehr auflöst und damit den Menschen vereinsamt und gefährdet (S. 172—193). Angesichts der ungeheuren Bedrohung des Menschen durch die moderne Massengesellschaft versagen die verschiedenen Formen eines rein diesseitigen Humanismus. Tatsächlich haben die verschiedenen Humanitätsreligionen versagt. Der klassische Humanismus der Aufklärung und der soziale Humanismus vermochten nicht die Entwicklung der Menschheit zur atomisierten Gesellschaft, in der die Freiheit und Würde des einzelnen aufs höchste gefährdet ist, aufzuhalten. Sie sind letztlich alle von einem falschen Menschenbild ausgegangen. Die Erneuerung der Gesellschaft kann nur von einer echten Theologie der Gesellschaft ausgehen. Auch der Begriff „sozial“ dürfe nicht absolut gesetzt und aufgebläht werden, so daß man damit eine neue Weltanschauung aufbaue. Das hat wenigstens in der Vergangenheit die Gefahr mit sich gebracht, daß die Kirche zu leicht taktische Bündnisse eingegangen ist mit diesen oder jenen sozialen Gruppen und Organisationen, um so besonders weltoffen zu erscheinen. Die Kirche muß also zu allererst sich selbst verstehen, um ihre Aufgabe der modernen Gesellschaft gegenüber zu erfüllen. Nur aus dem rechten Selbstverständnis heraus wird sie sich auch der modernen Gesellschaft in der rechten Weise anpassen in allem, was ihre eigene seelsorgliche Organisation betrifft. Die kirchliche Gemeinde muß der Struktur der modernen Gesellschaft entsprechen.

Wendlands Buch ist eine außerordenlich sorgfältige Arbeit, die vor allem auch die Dokumente der Weltkirchenkonferenz von Evanston (1954) verwendet. Aus den Anmerkungen ersieht man, daß der Autor wenigstens die kirchlichen Sozialenzykliken zitiert. Sonst allerdings wird aus der katholischen Literatur zur sozialen Frage und zur Frage der Neuorientierung der kirchlichen Seelsorge kein katholisches Werk zitiert. Wenn auch der Grundsatz „Catholica non leguntur“ nicht mehr starr gehandhabt wird, so wäre doch zu wünschen — und dies von unserer Seite nicht weniger als von der anderen —, daß wir von den wirklich ernsten christlichen Stellungnahmen zu den modernen Problemen hüben und drüben voneinander wissen. Vielfach geht es um dasselbe Anliegen, wie das achte Kapitel in Wendlands Werk zeigt, wo das Problem einer echten Gemeindebildung in der modernen Massengesellschaft besprochen wird (S. 193—217). Es geht vor allem um das Anliegen des Christentums der heutigen Welt gegenüber, das wir als Christen gemeinsam vertreten müssen. Jedenfalls verdient das vorliegende Buch auch unsererseits ernste Beachtung.

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