Wer braucht noch einen Kalifen?

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Vier Jahre sind es bald, seit - mitten im Spätherbst 2010 - der "Arabische Frühling" begann: in Tunesien, dann in Ägypten, im Jemen und anderswo.

Auch wir Europäer haben diesen Aufbruch gespannt mitverfolgt, zunächst zweifelnd, dann fasziniert. Bald schon erwiesen sich Diktatoren samt ihren Soldaten und Geheimdiensten als hilflos.

Dann begannen Libyen und Syrien zu taumeln - und der "Frühling" ertrank im Blut. Fremde Interessen, regionale und internationale, entstellten die hehren Ziele. Und sie bedienten sich zu oft dunkler Spießgesellen, um die jeweils erhoffte "Wende" zu erzwingen. Die Schuld für das, was dann kam, sieht Russlands Außenminister Sergei Lawrow in zwei Vergehen:

Allzu bedenkenlos seien Arabiens autokratische, aber doch säkulare Regime à la Mubarak politisch "entsorgt" worden.

Und: Der Westen habe religiös verkleidete Terroristen je nach Opportunität verdammt oder bejubelt. Und sich so die Mörder selbst gezüchtet.

Daran ist manch Wahres - es fehlt nur die Selbstkritik Moskaus.

Das eigentlich Schicksalhafte des "Arabischen Winters" aber verbirgt sich jenseits aller Unmenschlichkeiten: Es ist die alte, bis heute ungelöste Frage, ob es der islamischen Welt jemals gelingen wird, eine größere Trennung von Religion und Macht zustande zu bringen. Wir Europäer haben da keinen Anlass zur Arroganz, das "Gottesgnadentum" liegt auch bei uns nicht allzu weit zurück. Sicher ist: Millionen Araber sind zuletzt nicht auf die Straße gegangen, um ihre Religion zu schwächen. Wohl aber wollten sie den Regimen das Mäntelchen einer allzu oft missbrauchten religiösen Legitimation herunterreißen.

Rückkehr in die Theokratie

Genau das Gegenteil aber will jetzt der Terror des "Islamischen Staats" mit dem "Kalifat" (Stellvertretung Gottes bzw. des Propheten) erzwingen: eine Rückkehr in die Theokratie samt ihren unausweichlichen Folgen von Machtmissbrauch und religiös beglaubigter Gewalt. Religion als politische Ideologie.

Es sind bald hundert Jahre, seit sich die islamische Welt nach vielen Kämpfen vom Kalifat verabschiedet hat. Die politische Fiktion und der Schaden für den Glauben waren zu groß geworden. Für die Welt von heute gilt diese Erkenntnis noch weit mehr.

"Wir glauben nicht, dass alle Dimensionen des Lebens von religiösen Lehren abgeleitet werden sollen", hat kürzlich ein in Deutschland lebender Imam gesagt. Wie wahr!

Tunesiens Wähler wussten am vergangenen Sonntag - wohl auch unter dem Schock des IS-Terrors -, was auf dem Spiel steht: Dass nämlich der Weg in die moderne Zivilgesellschaft nur mit Gedanken- und Religionsfreiheit gelingen kann. Der Islam ist dort zwar "Staatsreligion", lässt aber Raum für Glaube und Gewissen aller Anderen.

Wir haben gelernt: Wo einander Religion und Macht allzu eng berühren, da entstehen Tragödien. An dieser Erkenntnis wird die ganze islamische Welt nicht vorbeikommen.

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