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Intellekt und Gehirn

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Größe und Struktur des Gehirns sagen nichts Entscheidendes über die geistige Ausrüstung (F. Weidenreich).

Im Sommer des verflossenen Jahres ist der bekannte und verdiente Anatom und Anthropologe, Prof. Dr. Franz Weidenreich, in New York leider eines plötzlichen Todes gestorben. Als ich ihn dort vor gut Jahresfrist noch hatte sehen und sprechen können, sagte er mir beim Abschied, daß er eine Studie unter der Hand habe, in der- er zeigen werde, wie bedeutungslos in Hinsicht der Intelligenzfrage die Größe des Gehirns sei. Diese Studie, die August 1948 in „The Scientific Monthly" erschienen ist, kam mir vor kurzem in die Hand. Ihr Inhalt repräsentiert nun Weidenreichs „letztes Wort“, was seine Bedeutung und das Interesse daran, auch iru weiteren Kreisen, gewiß noch steigern können wird.

Weidenreich geht von der Frage aus: „Ist der moderne Mensch wirklich intelligenter als der Peking- oder Javamensch oder als irgendein Menschenaffe, nur deshalb, weil sein Gehirn größer ist?" Er lehnt das ab, indem er sagt, daß weder im absoluten noch im relativen Sinne von der Masse des Gehirns aus auf den Grad der geistigen Befähigung geschlossen werden könne. In diesem Sinne weist er unter anderem darauf hin, daß der

Mensch zwar, relativ betrachtet, weit den großen Wal übertreffe. Bei diesem komm auf achteinhalb Kilogramm Körpergewicht ein Gramm Gehirnsubstanz, während beim Menschen schon 44 Gramm Körpergewicht ein Gramm Gehirnsubstanz entspreche. Aber dem steht wieder entgegen, daß der Mensch in dieser Hinsicht von den Zwergaffen Südamerikas stark in den Schatten gestellt wird: das Seidenäffchen hat schon pro 27 Gramm Körpergewicht ein Gramm Gehirnsubstanz aufzuweisen, während die entsprechenden Zahlen beim Kapuzineräffchen nur 17Va und eines betragen.

Angesichts der Tatsache, daß zum Beispiel Gail, Anatole France und Gambetta mit einem Gehirnvolumen von etwa 1100 ccm (was ungefähr dem des Pekingmenschen entspricht), das Auslangen finden mußten, während Dean Jonathan Swift, Lord Byron und Turgenjew fast des doppelt so großen Quantums sich erfreuen konnten, fragt Weidenreich: waren auf Grund dessen vielleicht die letztgenannten auch doppelt so gescheit wie die ersteren? — Angesichts der weiteren, heute allgemein bekannten Tatsache, daß der Neandertalmensch sich durch ein besonders umfassendes Gehirnvolumen auszeichnete, ja in dieser Hinsicht den Durchschnitt des heutigen Menschen überragte, stellt Weidenreich fest, daß der Höhepunkt der Entwicklung des menschlichen

@@@Gehirns offenkundig bereits weit (Mou- sterien) zurückliege. Hier ist allerdings zu beachten, daß Weidenreich den modernen Menschen aus dem Neandertaler abzuleiten sich bemüht, was andere Fachleute ablehnen oder doch stark in Zweifel ziehen.

Nachdem sich so gezeigt hat, daß aus dem Quantum der Gehirnsubstanz keine Folgerungen für den Grad der Intelligenz abgeleitet werden können, wendet Weidenreich seine Aufmerksamkeit der äußeren, der mehr oder weniger komplizierten Form des Gehirnes zu. Diese kann natürlich bei paläoanthropologischen Funden nicht direkt beobachtet, sondern nur aus der Innenstruktur der Schädelkalotte, also wie aus einer Art Negativ, erschlossen werden. Aber auch diese Versuche führten nach Weidenreich zu keinem brauchbaren Resultat. Was sollen derartige Überlegungen zum Beispiel angesichts der Tatsache, daß das Gehirn des Kapuzineräffchens nach außen so gut wie glatt (undifferenziert) erscheint, andererseits aber die Wale hinsichtlich der reichen äußeren Gliederung ihres Gehirns von keinem anderen Lebewesen übertroffen werden. „Wir sind also“, so sagt Weidenreich, ,.abermals auf dem Holzwege, wenn wir annehmen, daß aus der Anzahl oder der Kompliziertheit der Gehirnwindungen (wrinkles) auf den Fortschritt oder die Vollkommenheit der geistigen Fähigkeiten geschlossen werden könnte.“

Weidenreich erörtert dann die bekannte neuzeitliche Entdeckung, daß einzelne Fähigkeiten des Menschen in bestimmten Teilen des Gehirns lokalisiert erscheinen. Aber auch in cfiesem Falle bestehe keineswegs ein notwendiger Zusammenhang zwischen den geistigen Fähigkeiten und den betreffenden Partien des Gehirnes. Daß dem so sei, habe die moderne Gehirnchirurgie längst erwiesen. „Moderne Schädelchirurgen zerstören mit Absicht die Gehirnbahnen der Frontallappen, die ziemlich allgemein als Hauptsitz der Intelligenz betrachtet werden, und bewirken auf diese Weise ein fast völliges Wiederaufleben der Geistestätigkeit bei Personen, die man früher als unheilbar geisteskrank ihrem Schicksal überlassen mußte." Aus alldem zieht Weidenreich den weiteren Schluß:

„Infolgedessen sind zum Beispiel die Behauptungen der Paläoanthropologen, daß der Neandertaler oder der Pekingmeasdi ein Linkshänder oder ein Rechtshänder war, daß er zu sprechen oder zu schreiben oder nur zu stammeln vermochte, alles das herausgelesen aus den tieiferen oder weniger tiefen und engeren oder breiteren Impressionen an der Innenseite der Schädelkalotte, ohne w i s. senschaftliiche Basis, auch dann, wenn die Deutung jener Impressionen an und für sich als korrekt hingenommen werden könne."

Nach alldem kann es nicht wundernehmen, daß Weidenreich am Schlüsse seines Artikels erklärt, daß bloße Skelettfunde keinen Aufschluß zu geben vermögen über die Tatsache oder die Art der geistigen Befähigung der betreffenden Wesen. Nur Kulturobjekte komimen als Kronzeugen für das Vorhandensein geistigen Lebens in Betracht. Damit legt, wie man sieht, auch F. Weidenreich die Entscheidung darüber, ob wir es im gegebenen Falle mit einem wirklichen und vollen Menschen zu tun haben, in die Hand des Kulturforschers, des Prähistorikers und Ethnologen. Daß vor kurzem auch der Oxforder Anatom Le Gros Clark sich in wesentlich gleichem Sinne geäußert hat, konnte den Lesern schon bei anderer Gelegenheit zur Kenntnis gebracht werden („Die Furche“, 1948, Nr. 52). Daß unsere Wiener Fachanthropologen (Professor Dr. Josef Weninger usw.) die gleiche Auffassung vertreten, ist ja längst, jedenfalls in Fachkreisen, bekannt.

So darf auf Grund alles dessen ein ziemlich bewegtes Kapitel der Urmenschforschung wohl als definitiv geklärt und abgeschlossen betrachtet werden. Es ist gewiß bezeichnend, daß es mit einer eindeutigen und klaren Anerkennung des Geistigen als Unterscheidungsmerkmal auch beim wissenschaftlich greifbaren Urmenschen geendet hat. Weidenreichs letzte Studie ist nur mäßigen Umfangs, aber sicher ist sie eine der bedeutendsten, die er je geschrieben bat.

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