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Demokratie heißt Verantwortung

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DIE POLITISCHE VERANTWORTUNG DER NICHTPOLITIKER. Zehn Aulsätae. Piper-Pape*, back. 17S Selten. Preis 7.80 DM.

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DIE POLITISCHE VERANTWORTUNG DER NICHTPOLITIKER. Zehn Aulsätae. Piper-Pape*, back. 17S Selten. Preis 7.80 DM.

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Demokratie heißt Verantwortung aller für die gemeinsame Sache, schreibt der Herausgeber der vorliegenden Aufsatzreihe, Johannes Schlemmer, und fügt hinzu: „Wer aber Verantwortung trägt, muß auch Rechte haben, die der Größe dieser Pflicht entsprechen. Vor allem aber muß er sich dieser Rechte bewußt sein und bereit, sie zu gebrauchen... Die Verantwortung wächst mit dem Maß der Einsicht, das der einzelne besitzt... Der Süddeutsche Rundfunk hat eine Vorlesungsreihe dem Vorhaben gewidmet, die Meinungs- und Willensbildung der verantwortungsbereiten Mitbürger anzuregen. Die Texte liegen nun ihm Rahmen der Folge „Das Heidelberger Studio vor.

Die Reihe eröffnet der Hamburger Ordinarius für Philosophie, vormals Professor für Theoretische Physik, Carl-Friedrich von Weizsäcker. Er spricht von dem denkwürdigen Memorandum der „Tübinger Acht“ , das für Bundestagsabgeordnete bestimmt war und nur durch eine Indiskretion in die Öffentlichkeit gebracht wurde. Weizsäcker beharrt darauf, daß die öffentliche Erörterung von Fragen, in diesem Fall der Deutschlandfrage, für eine gesunde Demokratie unentbehrlich ist.

Theodor Eschenburg, Professor für wissenschaftliche Politik in Tübingen, setzt den Gedanken fort und spricht über das Funktionieren der parlamentarischen Demokratie im allgemeinen. Er spricht von dem „Versicherungssystem“ , das nur in Verbindung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit funktioniert.

Wilhelm Röpke untersucht das Problem der Interessenvertretung als Mittel der Einflußnahme. Er hält die Einflußnahme der Interessengruppen für legitim und deren Pluralismus für gesund, solange diese einander und die Macht des Staates begrenzen.

Der Tübinger Professor für Arbeits- und Sozialrecht, Erich Fechner, betont die Interessen der Nichtorganisierten. Er nennt die Krankenschwestern, die potentiellen Opfer des Straßenverkehrs, die Bausparer, die vor dem Ziel von den Baumaterialienhändlern und Handwerkern überrollt werden; die Verbraucher überhaupt, dann die Kinder, angesichts der vielen negativen Erziehungseinflüsse, die Frauenberufe ... Er ruft das Berufsbeamtentum, die Professoren, die Gerichte, die Presse und die Kirchen auf, die vernachlässigten Interessen dieser zurückgebliebenen Gruppen mehr als bisher wahrzunehmen.

Gerhard Leibholz, Professor für politische Wissenschaften in Göttingen, spricht vom Einfluß der Fachleute auf politische Entscheidungen, den er den Forderungen aus dem Bereich des Politisch-Existentiellen untergeordnet wissen will; Chefredakteur Helmut Cron untersucht das „Unbehagen an unserem politischen Stil“ ; der Soziologe Hellmut Becker spricht von der Möglichkeit, Politik zu lernen, Johannes Schlemmer vom Einfluß der Publizistik, der Heidelberger Professor für Psychosomatische Medizin, Alexander Mitscherlich, von der proklamierten und der praktizierten Toleranz. Den letzten und bemerkenswertesten Beitrag liefert Hannah Arendt über „Wahrheit und Politik“ . Sie erinnert daran, daß die Welt viele Jahrhunderte hindurch einen Raum — in den Universitäten, Akademien und Gelehrtengesellschaften — bereit hielt, wo Wahrheit jenseits aller Interessenkämpfe das zentrale Anliegen aller war. „In diesem Sinn bringt der Raum des Akademischen das Element des Unparteiischen in die Politik, und darin liegt seine eigentlich politische Bedeutung.

Scharf zieht Hannah Arendt hier die Grenze etwa zwischen jenen, die mit Hilfe der Soziologie und der Psychologie die Kunstgriffe der modernen Meinungsforscher aufdecken, und jenen, die sich hernach entschließen, selbst noch schlauere Experten der Meinungsmanipulation auszubilden. Die letzteren verraten die Wissenschaft und die Wahrheit ... Hannah Arendt weist damit auf ein zentral gelegenes Problem unserer Zeit (wie vermutlich aller Zeiten), auf den Verrat am Geist, hin. Fein arbeitet die Verfasserin ferner den Unterschied zwischen den allgemeinen Wahrheiten im Sinn der abendländischen Philosophie und den Tatsachenwahrheiten heraus: Während man in Rechtsstaaten heute in Fragen, die allgemeine Wahrheiten betreffen, offen eine abweichende Meinung vertreten kann, ist es schwer, oft unmöglich, Tatbestände zu klären, die eine herrschende Propaganda verschleiert oder geleugnet haben will. „Temporär ist die Kraft der Wahrheit“ , schließt die Verfasserin, „der macht organisierter Propaganda immer unterlegen. Aber Macht selbst ist sehr viel vergänglicher als Tatsachen... Macht verschwindet, sobald die Organisation erlahmt und die in ihr vereinten Menschen sich wieder zerstreuen; und wenn dies geschieht, ist das Wahre immer noch wahr...

In diesem schmalen Band meldet sich ein hierzulande stark vernachlässigter Bereich der Erwachsenenbildung, der die Anteilnahme der Staatsbürger an der Demokratie wecken will. Man könnte sich Vortragsreihen im Rundfunk oder handliche Bücher ähnlicher Art mit teilweise anderen Akzenten vorstellen, mit Einbeziehung des Religiösen, oder aber des Parteiwesens etwa, musterhaft bleibt der Ernst, mit dem hier politische Verantwortung angestrebt und gleichzeitig dokumentiert wird.

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