6694317-1962_51_21.jpg
Digital In Arbeit

Die Entfaltung der Trikolore

Werbung
Werbung
Werbung

LE CULTE DE NAPOLEON. Von J. Luca s-Dubreton. Editions Albin-Michel Pari. 468 Seiten.

J. Lucas-Dubreton, der auf zahlreiche Werke über die Geschichte Frankreichs rwischen den beiden Kaiserreichen hinzuweisen vermag, hat seine Forschungsergebnisse neuerlich vorgenommen und ergänzt. Auf das verhängnisvollste durch leinen Bruder Karl und dessen Günstlinge — die Ultras — beeinflußt, hat Ludwig XVIII. die königliche Familie, welche durch den Vorwurf, sie sei „in den Four-gons der Alliierten und unter dem Schutz ihrer Bajonette“ heimgekehrt, arg diskreditiert worden war, nicht zu leiten verstanden. Wie Großstädter sich zumeist als laue Patrioten erweisen, nahmen auch die Pariser Umsturz und Okkupation recht gelassen hin: Bürgertum und Handwerker atmeten auf, da sie weitere Kriegsfolgen erspart sahen. Entlassene Offiziere und Soldaten bevölkerten die Städte, durch ihre abgetragenen Uniformen leicht zu unterscheiden von den auch durch Minderwertigkeitskomplexe haßerfüllten Emigrierten, die, obwohl sie kein Pulver gerochen, dennoch den in zahlreichen Kriegen bewährten Offizieren vorgesetzt wurden.

Die Getreuen fanden bald Mittel und Wege, um ihrem Abgott über die Widrigkeiten nach Elba zu berichten, denen sie ausgesetzt waren. Da Napoleon überdies den Nachrichten über Zwistigkeiten beim Wiener Kongreß zu große Bedeutung beimaß, täuschte er sich in allem über die Möglichkeit, wieder zur Macht zu gelangen. Die wiederholten Kreuzfahrten des mit seiner Bewachung betrauten Obersten Campbell ließen in Napoleon die tollkühne Absicht, nach Frankreich zurückzukehren, zur Tat reifen. Nach dreitägiger Fahrt landet er am 1. März im Golf Jouan. In den Städten bejubelt ihn auch die von den Garnisonen mitgerissene Bevölkerung. Nicht so die Bauernschaft, die 10 viele ihrer Söhne in den Kriegen geopfert hatte. Ein Bürgermeister einer Ortschaft begrüßt den Kaiser wenig respektvoll: „Wir begannen, glücklich und beruhigt zu sein. Nun werden Sie wieder alles durcheinander bringen.“ In Sankt Helena vertraute Napoleon einem Gesprächspartner an: „Ich vermag nicht auszudrücken, wie sehr mich diese Worte bewegt und geschmerzt haben.“ Am 20. März bereits rollt eine Postkutsche durch den Triumphbogen bei den Tuilerien vor, die Ludwig XVIII. am Vortag verlassen hatte. Das Wunder einer Invasion durch einen einzigen Mann ist geglückt, wie Chateaubriand verärgert niederschreibt. Das Gelingen, gefördert durch die Begeisterung des durchquerten Landes, steigert Haß und Angst der Alliierten und Royalisten.

Doch:.niemand hat die.-Entfaltung :de-Napoleon-Kultus JSBäüiA WaheriiaontkonteW quenter gefördert als England, der Kerkermeister, und das in seiner Rachsucht engstirnige bourbonische Regime, die doch beide von dem entmachteten Gegner nichts mehr zu befürchten hatten. Anstatt sich mit dem Erreichten zu begnügen und der Nation die Lasten der Besetzung zu erleichtern, kündigte es aller Welt die Bestrafung der Militärs und Funktionäre der Hundert Tage an. Durch die daraufhin unter den Augen der Behörden im Süden einsetzenden Terreur blanche, der als einer der ersten Marschall Brune zum Opfer fiel, und infolge anderer Verbrechen der rachsüchtigen Ultras wurde der zwischen der bereits reichlich unpopulären Dynastie und der Nation klaffende Abgrund nur noch erweitert. Den Kulminationspunkt erreichte die Empörung durch den öffentlichen Prozeß gegen den gefeierten Marschall Ney, der ursprünglich fest entschlossen gewesen war, Napoleon auf dem Weg nach Paris zu verhaften.

Mit dem Ableben des fast in die Legende eingegangenen Kaisers Napoleon flauten die Diskriminierungen seiner Anhänger ab, die sich übrigens mit dem Unabänderlichen bereits früher abgefunden hatten. Der Haß seiner Widersacher war gegenstandslos geworden, um so mehr, als sein Sohn wegen des unausbleiblichen Einspruchs aller Mächte als sein Nachfolger nicht in Betracht gekommen wäre. Fast sechs Jahre hindurch hatte die Weltöffentlichkeit nichts Verbürgtes über den Gefangenen gehört als das, was die englischen Blätter bringen durften oder die vorzeitig nach Europa zurückgekehrten Schicksalsgenossen berichteten. Zwei Jahre nach dem Tod Napoleons erweckte das in Paris erschienene Memorial de Ste.-Helene des Grafen von Las Cases von neuem das Interesse an dem Genie, welches zwanzig Jahre lang fasziniert hatte oder als die Inkarnation des destruktiven Geistes der Revolution erschien. Der ideelle, noch mehr der materielle Erfolg bewog zahlreiche Persönlichkeiten des Empires. ebenfalle Memoiren auf den Markt zu bringen. Endlich zur Einsicht gelangt, wie vergeblich auch nur der Versuch sei, den Napoleon-Kultus zu behindern, gestattete die Regierung das Erscheinen weiterer Werke über die Jahre 1789 bis 1815. Im steten Kampf um die Bewahrung der freiheitlichen Errungenschaften ließ sich Karl X., durch gewissenlose Ratgeber verleitet, im Juli 1830 in einen Staatsstreich ein, der mit der Absetzung seiner Dynastie einen beschämenden Abschluß fand. Gestützt auf die „Union mystique“ der Bonapartisten mit den Republikanern, die Louis-Philippe aller Welt durch die Entfaltung der Trikelore vor Augen führt, gelingt es ihm, die Proklamierung der Republik und durch die Annahme der von ihm keineswegs angestrebten Königskrone das Umsichgreifen ähnlicher Bewegungen in Deutschland und Italien zu verhindern.

In der Schilderung der politischen Konstellation als Rahmen für das Wirrwarr der Jahre 1815 bis 1830 berichtet Lucas-Dubreton, wie immer ohne Voreingenommenheit, über die vexatorische Politik der letzten Bourbonen, welche auch einen wechselvollen Kampf mit den fast regelmäßig nur wegen ihrer politischen Einstellung beiseitegeschobenen Bonapartisten und Liberalen führten, welche sich manchmal auch mit entwaffnender Naivität in grausam und willkürlich gesühnte Komplotte eingelassen haben. Wie alle Werke Lucas-Dubretons. ist auch dieses als ein anregender Beitrag zur Charakteristik der französischen Nation zu werten, die heute, nach 130 Jahren, des Königshauses, das den Aufbau des heutigen Frankreich vollendete, frei von jeder Einstellung zur Tagespolitik gedenkt.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung