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Die engeren Grenzen der Graphologie

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Zu dem Thema „Die Grenzen der Graphologie" hat Herbert H ö n e 1 in Nr. 17 1949 das Wort gehabt. Im Nachstehenden setzt ein Autor die Diskussion aus anderen Gesichtspunkten fort. „Die österreichische Furche“

Das Bestreben, durch eine möglichst scharfe Grenzziehung der graphologischen Möglichkeiten die umstrittene Wissenschaftlichkeit dieses Zweiges der Seelenkunde zu festigen, ist zweifellos auf dem richtigen Weg. Nur muß sich dann die Aufstellung der Grenzpfähle auch konsequent an alle bisherigen Erfahrungen halten, das heißt sie muß aus den eindeutigen Mißerfolgen die entsprechenden Schlüsse ziehen. Sie muß erkennen, daß die Hauptursache alles Fehldeutens im Zuvieldeuten liegt. Und sie muß bekennen, daß sehr viel gerade von dem für die praktische Menschenkenntnis Entscheidenden aus der Schrift nicht zu ersehen ist. Ja, wenn man etwa den Charakter (über dessen Definition sich die Psychologie durchaus noch nicht einig ist) als den Menschen unter dem Gesichtspunkt seiner Strebungen auffaßt, dann läßt sich mittels graphologischer Methoden so gut wie nichts über ihn aussagen. Denn ob einer zur Politik, Religion, Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft usw. neigt, darüber kann ein gewissenhafter Schriftsachverständiger wohl kaum wirklich Aufschlußreiches berichten, er müßte sonst verfahren wie einer, der von der Kretschmerschen Typologie auf jene Sprangers schließen wollte — oder er müßte die Begriffe der genannten Kulturgebiete derart weit fassen, daß ein dahin verwiesener Mensch uns völlig farblos erscheinen würde.

Ob wir also den „Charakter" eines Menschen aus seiner Handschrift erkennen können, ist eine Frage der noch nicht fixierten psychologischen Terminologie. Wenn Charakter „die psychische Eigenart des Einzelmenschen“ mit all seinen Interessen- und Strebungsrichtungen bedeutet, dann er fassen wir graphologisch nur einen Teil dieses Charakters — nämlich die entwickelte Anlagenstruktur, das „Temperament“ im weiteren Sinn als die formale Eigenart des seelischen Lebens und seiner Äußerungen. Über das Inhaltliche, das Material, in dem dieses Temperament im Leben angreift und sich auswirkt, kann die Graphologie genau so wenig aussagen wie die meisten wissenschaftlichen psychodiagnostischen Methoden. Damit ist sie mit der Masse der Testverfahren auf eine Rangstufe gesetzt, damit auch ihre Wissenschaftlichkeit bewahrt. Sie darf gleichberechtigt neben andere psychologische Temperamentsprüfungen treten, um gemeinsam mit ihnen an der — immer lückenhaft bleibenden — Zeichnung einer menschlichen Seele zu arbeiten.

Daß allerdings, wie Hönel behauptet, die Handschriften analyse imstande ist, die „leitenden Triebfedern in einem Umfang wie dies keiner anderen psychodiagnostischen Methode möglich ist, teils mit Wahrscheinlichkeit (? sehr dehnbar. Anm. von mir.), teils mit Gewißheit, festzustellen“, das scheint mir doch etwas anzweifelbar. Läßt man als Triebfeder zum Beispiel die Heimatliebe gelten, so ist die natürlich aus der Schrift nie zu ermitteln. Aber auch etwa an die Eifersucht läßt sich nicht so einfach herankommen. Man kann wohl einige Wurzeln, wie Egozentrität, Empfindlichkeit, labiles, beziehungsweise forciertes Selbstbewußtsein weitgehend aufdecken, womit aber keineswegs sichergestellt ist, daß daraus notwendig Eifersucht folgen muß; abgesehen davon, daß diese Eigenschaft manchmal auch aus ganz unvorhergesehenen Gründen bei Menschen, von denen man dos nie erwartet hätte, hervorbrechen kann. Ähnlich ist es mit der Treue: wohl kann man in einem Fall zum Beispiel Willensstruktur, Verfestigungs- und Beharrungstendenzen gut ausgeprägt finden, aber ob daraus nun nicht nur Neigung zu Fanatis mus, Zähigkeit, Eigensinn usw., sondern auch Treue wird, das sollte man schriftanalytisch nicht entscheiden wollen. Denn diese und die meisten Eigenschaften, für die sich die „Patienten“ eines Graphologen interessieren, sind viel zu komplexer und abgeleiteter Natur, sind viel zu sehr mit den niemals vorauszusehenden konkreten Lebenssituationen verknüpft, als daß man darüber Sicheres sagen könnte.

Darum auch die Undiskutierbarkeit einer wissenschaftlichen graphologischen Eheprognose. Hier haben wir den typischen Fall für das Übersehen der Grenzen, für die Überspannung des Bogens. Denn die Graphologie kann freilich die den Mitweltbezug mitbestimmenden seelischen Anlagen, wie etwa Kontaktvermögen, Einfühlungsgabe, Großzügigkeit, Durchsetzungsstreben und anderes annähernd genau aufweisen, aber sie vermag niemals zu sehen, wie sich der Mensch nun in einem sozialpsychischen Verhältnis (Ehe, Freundschaft, Stellung im Beruf, im Verband usw.) unter dem Einfluß der vielen anderen Faktoren wirklich entwickelt, sie darf also auch zum Beispiel (entgegen Hönels Ansicht) niemanden auf das Urteil festnageln, daß er unter keinen äußeren Umständen zu einem Betrüger werden wird.

Schließlich sei noch ein Problem angedeutet, bei dessen Bearbeitung die Graphologie leicht mißverstanden wird, aber selber auch gern der Versuchung nachgibt, ihre Grenzen zu überschreiten. Die Schriften großer (lebender oder toter) Persönlichkeiten werden nämlich in der Regel mit Wissen um den Schrifturheber begutachtet und dann wird nicht selten in die Schrift das hineingesehen, was man eben von dem bedeutenden Mann weiß, wobei es vorkommen kann, daß zum Beispiel in Bismarck Geradheit, Knorrigkeit und Unliebenswürdigkeit, womöglich gar „Blut und Eisen“ hineinpraktjziert und dabei das Wesentliche, die psychopathische Konstitution übersehen wird. Ist man über diese letztere im Bilde, so findet sie sich natürlich auch im Gutachten. Bleibt sich aber der Graphologe seiner beschränkten Möglichkeiten bewußt und wird ihm die Grenzeinhaltung leichter gemacht durch Nichtkenntnis des Schreibers, so vermag er unter Umständen nur das Psychopathische als bestimmendes Außernormales neben vielem Normalen zu diagnostizieren und wird dann nur zu schnell der Verkennung des Genies geziehen, hat er doch über die faktische schöpferische Tätigkeit nichts sagen können. Wenn Hönel seelisch-geistiges Schöpfertum mit „Genialität“ gleichsetzt, so können wir ihm dabei zwar nicht folgen, denn für uns liegt das Genie nicht im Werk, sondern nur in dem durch das Werk vermittelten Wert, das heißt in dem Gefühlsurteil der Mit- und Nachmenschen, wohl aber stimmen wir dem Endresultat bei; der Behauptung der graphologischen Nichterkennbarkeit konkreten, in einem Material sich auswirkenden Schöpfertums.

Sind aber die Grenzen richtig gesteckt und hält sich die Graphologie auch in ihrer Praxis daran, dann darf sie mit Recht auf ihrer Anerkennung als ernstzunehmender Wissenschaftszweig bestehen. Warum ist hier noch nicht alles in Ordnung, warum hat die Graphologie noch immer gegen einen Strom herablassendster bis gehässigster Vorurteile zu schwimmen? Als Antwort die Binsenwahrheit: weil es viel zu viel Grenzüberschreiter gibt. Und das folgt aus der nicht weniger alltäglichen Weisheit: mundus vult decipi; für unseren Fall übersetzt: weil die menschliche Seele die gierige Sucht hat, sich mit den verschiedensten Eigenschaften zu identifizieren. Egal, ob sie sich im nächsten Kino mit den unwahrscheinlichsten Helden-Abenteuer-Verbrecher- Naturen gleichsetzt oder ob eie beim erstbesten Winkelgraphologen in einen durch die geschickte Mischung von Hell und Dunkel schmackhaft servierten, gutachtlich bescheinigten Charakter hineinschlüpft. Es soll gar nicht geleugnet werden, daß solche „Seelenforscher“ auch eine gewisse Menschenkenntnis beitzen; sie sehen es ihrem Kunden in der Regel bald an, wieviel sie ihm zumuten dürfen, ob sie diesen kritischen Mann mit vieldeutigen, kautschukartig biegsamen Ausdrücken abspeisen müssen, oder ob sie jener blindgläubigen Frau das Blaue vom Himmel herunter phantasieren können usw., aber die gegebenen Grenzen einzuhalten sind sie entweder nicht gewillt oder nicht befähigt.

Fazit: Solange diese Graphologen sich in der Überzahl befinden, wird die exakte Wissenschaft schimpfen oder lächeln, je nach Temperament, sobald sie einmal eine unbedeutende Minderheit geworden sind —- ganz aussterben werden sie wahrscheinlich nie —, wird sie das wissenschaftliche Heimatrecht der Graphologie genau so wenig anzweifeln wie das der Medizin, der auch niemand im Ernst ihre paar „Wunderdoktoren“ ankreidet. Heute aber schon darf auch von den skeptischesten Geistern verlangt werden, daß sie die Trennungslinie sehen, die den ernsten Wissenschaftler, der ein Teilgebiet der Psychologie zu seinem Spezialfach gemacht hat, von dem überwiegend mit der Identifizierungssucht der menschlichen Seele arbeitenden Auchgrapho logen scheidet.

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