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Die Grenzen der Graphologie

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Die ernstzunehmende Graphologie, die in Theorien der Psychologie des Schreibens fundierte Handschriftendeutung, hat gegenwärtig schwer zu leiden unter dem wieder üppig ins Kraut geschossenen Pfuschertum. Wer von einer Sache wenig versteht, wirkt gern kompensatorisch „Wunder“, und so kommt es, daß die Halbkönner durch nichts so sehr dem Ansehen der Graphologie schaden, wie durch maßlose Übertreibung ihrer angeblichen Möglichkeiten. Der Verfasser, selbst Ausübender dieses Zweiges psychologischer Diagnostik und auf dem Gebiet auch theoretisch arbeitend, glaubt daher seinem Fache zu nützen, wenn er dessen Grenzen aufweist. Vielleicht wird dadurch der eine oder andere instand gesetzt, einen Scharlatan rechtzeitig zu erkennen.

Wir unterscheiden solche Grenzen, die grundsätzlich unübers'chreitbar sind, von solchen, die bisher nicht überschritten werden konnten; daneben gibt es noch Grenzen, di nicht in der Methode, sondern im Deuter selbst liegen. — Über den letzten Punkt müssen wir uns an diesem Orte kurz fassen, mag auch das Versagen der Graphologie in der Praxis hauptsächlich auf Mängel beim Begutachter zurückzuführen sein.

Nur eine jedesmal unüberschreitbare Grenze dieser Art sei kurz erwähnt. Wahrnehmen kann man nur das, wofür man ein Wahrnehmungsorgan hat. Da der Handschriftendeuter die Beschaffenheit des menschlichen Innenlebens ermitteln soll, kann er im anderen nur das sehen, was er selbst wenigstens annäherungsweise nachzuerleben imh stände ist. Allzu dürftige Charaktere sind daher zur Deutungsausübung überhaupt ungeeignet, da ihre Befunde notwendig durch Einseitigkeit und zu engen Blickwinkel falsch sein müssen. Allein an Mängeln dieser Art ist ein Großteil der Pfuscher kenntlich.

Von den Grenzen, die in der Materie selbst begründet sind, wollen wir hier nur diejenigen behandeln, die praktische Bedeutung haben. — Da muß denn zuerst festgestellt werden, daß auf Grund der Handschrift nur die Art, nicht aber der Inhalt des Innenlebens ermittelt werden kann. So läßt sich zum Beispiel ermitteln, daß jemand erheblichen Grades zur Eifersucht neigt; wem die Eifersucht im Einzelfall gilt, das ist grundsätzlich zu finden unmöglich. Kein Graphologe kann Gedanken lesen, und daß sich in der Handschrift die politische Überzeugung verraten könnte braucht niemand zu befürchten. Ebenso steht es aber auch mit der Erkennbarkeit sonstiger Ansichten oder der bestimmten Religion des Schrifturhebers (während man allgemein zur Politik neigenden Betätigungsdrang oder Religiosität schlechthin sehr wohl auffinden kann).

Nur gleichsam am Rande soll erwähnt werden, daß es dem Graphologen grundsätzlich nicht möglich ist, Geschlecht und Alter des Schreibers festzustellen. Graphologisch ist ausschließlich der Charakter (= die Sonderbeschaffenheit einer persönlichen Seele) diagnostizierbar. Es gibt nun jugendliche Charaktere von tatsächlich hohem Alter, weibliche Charaktere männlichen Geschlechts (und vice versa), so daß über tatsächliches Alter und Geschlecht nur zu oft fehlgreifende Vermutungen möglich sind (weshalb für den Begutachter deren Angabe unerläßlich ist). — Auch seelisch-geistiges Schöpfertum (sogenannte „Genialität“) steht außerhalb des Charakters und kann grundsätzlich nur an den Werken aufgewiesen werden, wenn auch schöpferisches Vermögen tatsächlich in manchen Fällen aus charakterlichen Begleiterscheinungen zutreffend vermutet werden kann. — Ähnlich steht es mit den Geisteskrankheiten (= Psychosen), die — was den mit der Materie nicht Vertrauten immer wieder überrascht — sich in vielen Fällen graphologisch (einstweilen) nicht ermitteln lassen. “Wesentlich günstiger steht es hingegen mit den seelischen Erkrankungen; wenigstens die Anlage hiezu, die psychopathische Konstitution, kann mit Sicherheit erkannt werden. Grundsätzlich unmöglich dürfte es jedoch sein, die akute Erkrankung aufzufinden (wenn auch in schweren Fällen tatsächlich manchmal ihre Wahrscheinlichkeit zu erkennen ist), und unmöglich sind graphologisch über die Symptome mehr als Vermutungen möglich. Trotzdem wird der Graphologe dem Psychiater und Nervenarzt, besonders dem Psychotherapeuten, manchen wertvollen charakterlichen Aufschluß geben können. Nicht mehr als Vermutungen sind über körperliche Erkrankungen möglich und gar Differentialdiagnosen werden immer Sadie des Arztes sein.

Verständlicherweise tritt man oft an den Graphologen mit der Frage heran, ob der Schrifturheber vertrauenswürdig und ehrlich sei. Daß in sämtlichen Fällen nur der leichtfertige Stümper ausschließlich bejahen oder verneinen wird, leuchtet ein, wenn wir bedenken, daß die erwähnten Verhaltungsweisen nur mittelbar vom Charakter, mehr oder weniger aber auch von äußeren Umständen abhängen. In vielen Fällen kann der gewissenhafte Begutachter auf die sozialen Auswirkungen des Charakters daher nur mit mehr oder weniger großer Wahrscheinlichkeit schließen. Immerhin kann dem Auftraggeber auch diese beschränkte Aus- sagemöglichkeit wertvoll sein, denn neben Menschen, deren Verhalten sich nur schwer veranschlagen läßt, gibt es solche, die unter keinen äußeren Umständen zu Betrügern werden und leider auch solche, die durch keine noch so harten Strafbedingungen zu einem moralisch einwandfreien Verhalten zu bewegen sind. Je mehr sich der einzelne Schreiber diesen Extremen nähert, um so bindendere Aussagen sind über sein Verhalten möglich. — Wahrscheinlich unüber- schreitbare Grenzen sind der Graphologie in bezug auf die meisten körperlichen Begabungen gesetzt. Handgeschick, Augenmaß und dergleichen erschließen sich zwar leicht anderen psychodiagnostischen Methoden, aus der Handschrift läßt sich darüber nichts ausmachen. — Daß man über das Triebleben, speziell über die Sexualität, gern etwas erfährt, ist begreiflich, und mancher mag deswegen zum Graphologen wandern. Auch hier müssen wir etwas enttäuschen. In manchen Fällen, besonders solchen abnormer Art, sind mit einiger Sicherheit Aussagen möglich, in vielen Fällen muß jedoch der Graphologe sein Nichtwissen eingestehen. Zumal Differentialdiagnosen im Bereich des Gesunden lassen sich häufig nicht stellen.

Etwas ausführlicher wollen wir das heikelste Kapitel graphologischer Begutachtung, die Eheberatung, behandeln. Um es gleich zu sagen: Der Graphologe kann verbindliche Eheprognosen nicht stellen! Das Gelingen einer Ehe hängt von so vielfältigen Faktoren ab (die zum Teil mit dem Charakter nichts zu tun haben), daß nur weitgehender Mangel an Verantwortung bewußtsein ein bestimmtes Ja oder Nein sprechen läßt. — Daß der Graphologe über das geschlechtliche Leben und seine Spielarten oft wenig oder nichts sagen kann, hörten wir — und doch ist gerade am Nichtzusammenpassen in dieser Hinsicht schon manche Ehe gescheitert. Es gibt ferner ehewichtige Daten, wie körperliche Erschei nung, äußere Gewohnheiten, materielle Umstände und anderes, die nicht verwertet werden können, weil sie graphologisch nicht ermittelbar sind. Kein Graphologe kann mehr als nur mutmaßen, wie sich die Charaktere beider Partner im Laufe der Zeit entwickeln werden (unter dem Einfluß möglichen Kindersegens, des Alters, von Krankheiten usw.), während die Ehe ja nicht nur gegenwärtig, sondern auch später noch „glücklich “ sein soll. Von entscheidender Wichtigkeit kann auch die weltanschauliche oder religiöse Übereinstimmung beider Partner sein, worüber wir bekanntlich aus der Handschrift nichts entnehmen können. Die Hauptsache haben wir dabei noch gar nicht erwähnt: die Liebe. Erst durch die Liebe wird ein sonst bestenfalls erträglicher Dauerzustand zur echten Lebensgemeinschaft und, was sonst unmöglich erscheinen mag, durch die Liebe wird es möglich. Welcher Graphologe aber kann von sich behaupten, auch zeitenüberdauernde Liebe diagnostizieren zu können? — Es ist daher nichts anderes als grober Unfug, wenn durch graphologisch arbeitende Ehevermittlungsbüros oder durch die Herausgabe ehediagnostischer Rezeptbücher der Anschein erweckt wird, als gäbe es nichts Zuverlässigeres als eine graphologische Eheprognose. — Unsere Darlegungen sollen nun nicht bedeuten, es sei zwecklos, an den Graphologen mit der Ehetauglichkeitsfrage henanzutreten. Einklang der Charaktere kann allerdings die W.ahrscheinlichkeit einer guten Ehe bedeutend erhöhen; diese Voraussetzung kann wenigstens graphologisch geklärt werden und manchmal kann dadurch vor argen Mißgriffen gewarnt werden. Nur darf eben niemand eine1 glückliche oder unglückliche Ehe Voraussagen wollen.

Wenn wir in Vorstehendem die Grenzen eines leider noch wenig gewürdigten Zweiges der Psychologie aufwiesen, dann geschah das im Hinblick auf den immer noch großen Raum, den diese Grenzen umschließen. Es wäre billig, daß wir n-un auch von den Möglichkeiten der Graphologie sprächen, doch müssen wir uns dies mit Rücksicht auf den beschränkten Raum versagen. Nur soviel sei angedeutet, daß die Handschriftenanalyse imstande - ist, Haupt- charakterzüge des Scbrifturhe-bers, vor allem seine leitenden Triebfedern, in einem Umfang, wie dies keiner anderen psychodiagnostischen Methode möglich ist, teils mit Wahrscheinlichkeit, teils mit Gewißheit festzustellen. Gerade in diesen reichen Möglichkeiten der Graphologie liegt aber ihre große Gefahr, denn sie verlockt dadurch ein Heer verantwortungsloser Halbkönner, sich ihrer zu bemächtigen und durch Nichtbeachtung der allem menschlichen Tun gesetzten Grenzen heillosen Schaden anzurichten.

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